Sprache ist nicht mimetisch, und sie ist auch nicht neutral. Sie liefert kein Abbild der Wirklichkeit, allenfalls modelliert sie diese, und zwar stets im Sinne der Sprecherin. Das heißt: Aussagen, die sich auf die äußere Realität beziehen, legen immer auch Zeugnis ab über die Absichten des Sprechers. – Es ist sinnvoll, sich diese Binsenweisheit des kommunikativen Handels auch im sprachlichen Alltag gelegentlich vor Augen zu halten.
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Sprache ist nicht mimetisch, und sie ist auch nicht neutral. Sie liefert kein Abbild der Wirklichkeit, allenfalls modelliert sie diese, und zwar stets im Sinne der Sprecherin. Das heißt: Aussagen, die sich auf die äußere Realität beziehen, legen immer auch Zeugnis ab über die Absichten des Sprechers. – Es ist sinnvoll, sich diese Binsenweisheit des kommunikativen Handels auch im sprachlichen Alltag gelegentlich vor Augen zu halten.
Die skeptizistische Wende des frühen 20. Jahrhunderts hat den Impuls zu diversen sprachkritischen Theorien gegeben, von denen so manche inzwischen auch Eingang gefunden hat ins kollektive Bewusstsein. Um nur die beiden bekanntesten und populärsten zu nennen: Der späte Wittgenstein postuliert den subjektiven Charakter sozialer Sprachspiele, während Foucaults Diskursanalyse die performative, wirklichkeitskonstituierende Macht der Sprache betont. Aufgabe einer modernen, zeitgenössischen Hermeneutik wäre also die plausible Gratwanderung zwischen naivem Sprachrealismus und konstruktivistischer Beliebigkeit, d.h. die Hinterfragung von sprachlichen Wirklichkeitskonstrukten, ohne aber dabei – und das ist auch hinsichtlich einer konsistenten politischen Kritik von großer Bedeutung – den Anspruch auf Wahrheit und Wirklichkeitsrelevanz preiszugeben.
Die weit verbreitete Meinung, Aussagen von Politikerinnen und Journalisten sei per se nicht zu trauen, verkommt zwar immer mehr zu einem ideologischen Eckpfeiler des Populismus. Der diesem Misstrauen zu Grunde liegende kritische Impuls ist natürlich trotzdem gültig und legitim: Wir sollten so genau wie möglich lesen, hellhörig sein, Sprache ernst nehmen. Besonders dort, wo vermeintlich Selbstverständliches nur en passant erwähnt wird. Denn die interpretierende, ja ideologiekritische Funktion des Verstehens ist unabdingbar bei Äußerungen, die ihre subjektiv-parteiischen Haltungen und Prämissen ganz bewusst, oft mit entsprechendem rhetorischen Aufwand verschleiern oder mit vermeintlichen Fakten „tunen“.
Die kognitive Linguistik bezeichnet das Phänomen der sprachlichen Manipulation im öffentlichen Raum als „Politisches Framing“. Der kalifornische Linguist George Lakoff, Schüler von Roman Jakobson und Noam Chomsky, hat diesen Zusammenhängen mehrere vielbeachtete Studien gewidmet, in denen er an zahlreichen Beispielen aus der amerikanischen Politik zeigt, wie stark die semantische Aura eines Wortes auf das Verstehen wirkt. Metaphern und implizite Anspielungen auf andere Kontexte – im nationalistischen Diskurs beispielsweise auf das Bild der Familie – transportieren Konnotationen, beeinflussen Emotionen und Einstellungen, rufen gängige Denkmuster, sogenannte „Frames“ und „Scripts“ auf, die unser Denken und Fühlen unterschwellig lenken. Auch diese Zusammenhänge sind längstens bekannt. Roland Barthes untersuchte solche „Frames“ als „Mythen des Alltags“, Adorno sprach vom „Jargon“ der politischen Ideologie. Wie stark solche meist nur unbewusst wahrgenommenen diskursiven „Frames“ ganze Kulturen und Epochen prägen und dabei große, gesamtgesellschaftliche Wirkungen auslösen, hat im deutschen Sprachraum zum Beispiel Klaus Theweleit 1977 mit seiner Untersuchung zur Freikorpskultur des Protofaschismus gezeigt.
Ich möchte im Folgenden ein aktuelles Beispiel herausgreifen, das mich in diesem Sommer besonders beschäftigt hat, weil hier genau mit der erwähnte Beiläufigkeit Behauptungen zu Evidenzen erklärt und der Leserschaft untergeschoben werden. Am 21. Juli war in der NZZ folgender Kommentar von René Scheu, ihrem amtierenden Feuilletonchef, zu lesen: „Am Beispiel der Ehe für alle lässt sich die politische Dynamik spätegalitärer Gesellschaften sehr schön studieren.“ Ein auf den ersten Blick harmloser Satz, der in der Online-Fassung des Artikels mit einem weiteren Beitrag desselben Autors verlinkt ist, in dem – im Anschluss an die umstrittene Opfertheorie des französischen Komparatisten und Kulturanthropologen René Girard – die narzisstische Wehleidigkeit unter „Bewohner[n] der egalitärsten Gesellschaften der Moderne“ beklagt wird.
Nun ist das Attribut „spätegalitär“ zunächst einmal ein simpler Neologismus. Der Duden kennt das Wort nicht, die Google-Suchanfrage ergibt keinen einzigen Beleg, nicht einmal den zitierten NZZ-Artikel. Was genau ist gemeint? Inwiefern wäre unsere Gesellschaft als „spätegalitär“ zu bezeichnen?
„Spät–„: Dieses Präfix hat es in sich. Analog zu anderen bekannten, von einem temporalen „Post-„ eingeleiteten lexikalischen Todesanzeigen wie „postmodern“, „postfeministisch“, „postdemokratisch“ oder „posthuman“ wird hier die Spätzeit eines sozialen Phänomens oder einer gesellschaftlichen Strömung eingeläutet und verkündet. Das der Vorsilbe Folgende, also die Moderne, der Feminismus, die Demokratie oder der Mensch, wird mit einem kurzen, simplen Präfix für obsolet erklärt. In dem zitierten NZZ-Artikel funktioniert die Abschaffung des Egalitären genau wie es George Lakoff für diese Form der manipulativen Kommunikation als typische Strategie beschreibt, nämlich en passant, das heißt ohne explizite gedankliche und argumentative Auseinandersetzung, so als sei das Ende der gesellschaftlichen Egalität eine triviale Selbstverständlichkeit und nur noch eine Frage der Zeit.
Es gibt semantisch harmlose Verwendungen der Vorsilbe „spät-„ etwa in Vokabeln wie „Spätnachrichten“ oder „Spätschicht“, doch die impliziten Verwendungen, mit ihren versteckten, um nicht zu sagen: subliminalen Botschaften sind mindestens genauso häufig. Aus historischer Retrospektive mögen gebräuchliche Epochenbezeichnungen wie „Spätantike“ oder „Spätgotik“ unproblematisch erscheinen, obwohl sich auch hier gewisse Prämissen einer teleologischen Geschichtsphilosophie eingeschlichen haben. Heikler als solche retrospektiven Epochenbezeichnungen sind allerdings prospektive, oft von politischem Wunschdenken geprägte Begriffe wie „spätmodern“ oder „spätkapitalistisch“. Denn hier klassifiziert nicht etwa die Geschichtswissenschaftlerin aus der gebührenden historischen Distanz, sondern der sich als Prophet bzw. Futurologe gerierende Philosoph.
Welche Sprengkraft das Präfix „spät-“ in der Tagespolitik annehmen kann, wissen wir spätestens seit Guido Westerwelles verräterischer Attacke gegen den Sozialstaat, der, so der damalige Parteivorsitzende der deutschen FDP, Sozialempfänger zu „spätrömischer Dekadenz“ verführe. Ausgerechnet Harz IV-Empfänger als Nachfahren jener Caesaren zu apostrophieren, die mit ihrer Verschwendungssucht für den Untergang des Römischen Reiches verantwortlich sind: Auf diese kreative Volte demagogischer Verdrehungskunst muss man erst einmal kommen!
Weniger anekdotisch als jene neoliberale Fehlleistung aus dem Jahr 2010 ist der klassische geschichtsphilosophische Topos des sogenannten „Spätkapitalismus“. Die von Werner Sombart (vgl. sein Hauptwerk Der moderne Kapitalismus von 1902) analog zu gängigen architektur- und kunstgeschichtlichen Epocheneinteilungen geprägte Gliederung des Kapitalismus in drei Phasen bezeichnet – im gängigen marxistischen Verständnis – die kritische Endphase des Kapitalismus, in der dieser seine selbstzerstörerischen Kräfte zur vollen Entfaltung bringe. Wenn Marxisten von „Spätkapitalismus“ sprechen, beschwören sie stets auch die Selbstheilungskräfte des Weltgeists…
Doch es gibt etwas, das gängige Begriffe wie „spätkapitalistisch“ oder „spätmodern“ ganz grundsätzlich von einem Neologismus wie „spätegalitär“ unterscheidet: Während zumindest hinsichtlich der Grundannahme, unsere Gesellschaft sei momentan (noch…) kapitalistisch oder (noch…) modern, ein breiter Konsens besteht, lässt sich das von ihrem vorgeblich „egalitären“ Charakter wohl kaum behaupten. Das Attribut „spätegalitär“ operiert also gleich mit zwei impliziten Unterstellungen: 1. mit der Annahme, die Epoche der Egalität komme an ihr Ende, was nun allerdings 2. voraussetzt, dass es eine solche Egalität überhaupt jemals gegeben hat. Und damit kommen wir zum eigentlichen Kern dieser begrifflichen Falschmünzerei. Die Vorsilbe „spät-“ fungiert hier rhetorisch als Existenzbeweis: Etwas, das bald zu Ende geht, muss ja wohl einmal existiert haben. Logisch! Das versteht jedes Schulkind. – Mit Wörtern Fakten schaffen: wie so etwas funktioniert, demonstriert dieses Beispiel auf besonders raffinierte Weise.
Wir alle haben uns an solche und ähnliche Subreptionen in öffentlichen Diskursen längst gewöhnt. Sie gehören zur politischen Polemik wie das Feuer zur Lunte. Dass Politiker versuchen, mit möglichst zugespitzten Formulierungen Fakten zu schaffen, ist nichts Neues. Jeder Medienkonsument kennt das empörte Getöse über „Gleichmacherei“, „Sozialneid“ und ähnliche Angriffe auf Grundprinzipien des Sozialstaats. Neu ist, dass ein vormals seriöses Feuilleton sich unter dem eifrig geschwenkten Banner einer neuen „liberalen Streitkultur“ an solch fragwürdigen Rhetorik-Kunststückchen inzwischen beteiligt, mancherorts sogar an vorderster Front. Da werden subjektive Befindlichkeiten zu Tatsachen, Idiosynkrasien zu Theorien, die noble, alte „Égalité“ verkommt zur vulgären „Gleichmacherei“. Doch wo in unserer Gesellschaft wäre sie de facto denn aufzufinden, jene von den Aposteln des freien Marktes freier Menschen immer wieder als dekadenter Popanz verschriene „Egalität“, die nun aber – New Economy sei Dank! – ihrem verdienten historischen Ende entgegen gehe?
Die Gegenrechnung ist schnell gemacht, die Ergebnisse altbekannt: Sie reichen von den skandalösen Einkommensunterschieden zwischen Angestellten und Managern börsennotierter Konzerne, über Lohn- und sonstige Diskriminierungen von Frauen, Benachteiligung sozialschwacher Familien in existenziellen Bereichen wie Wohnung, Bildung und Gesundheit, Steuerflucht und Steuervermeidung, bis hin zu Details des Kulturbetriebs, wenn z.B. das honorige „Lucerne-Festival“ seinen klassischen Orchestern normale bis üppige Gagen bezahlt, während es die MusikerInnen des angeschlossenen Weltmusik-Festival „In den Strassen“ für lau auftreten lässt… Man polemisiert gegen Mindestlohn, Vermögensabgabe, Frauenquote und „politische Korrektheit“, weil solche (spätegalitären…) Eingriffe in vermeintlich „freie“ Märkte deren „natürliches“ Gleichgewicht zerstören, während sozialwissenschaftliche Studien belegen, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich seit Beginn der neoliberalen Wirtschaftspolitik Anfang der 1980er Jahre fast überall dramatisch vergrößert hat.***
Dass diese Kluft keineswegs ein Unfall der Weltgeschichte ist, zeigt u.a. das bezeichnende Twitter-Statement des derzeitigen Auslandschefs der NZZ, Peter Rásonyi, mit dem seine Zeitung sogar Werbung macht: „Europa muss sich teilweise abschotten. Daran führt wegen der enormen Wohlstandsunterschiede kein Weg vorbei.“
In der Tat: Es gilt, „enorme Wohlstandsunterschiede“ zu schützen, „spätegalitäre“ Auswüchse zu stoppen, die Schotten dicht zu machen! Jetzt, da man in Afrika immer öfter auf die Idee kommt, lieber nach Europa zu flüchten, als brav auf verdorrten, vom Krieg verwüsteten oder ölverseuchten Feldern zu verhungern, käme die „(spät-)egalitäre“ Vorstellung einer prinzipiellen Gleichheit aller Menschen natürlich ganz besonders ungelegen.
Dass der bürgerlich liberale Grundsatz der Meritokratie dabei in Widerspruch zu seinen eigenen Grundannahmen gerät, scheint bei solchen Verlautbarungen keine Rolle zu spielen. Soziale Privilegien müssen – so wurde einst gegen reaktionäre Monarchisten argumentiert – durch individuelle Arbeit und Leistung „verdient“, und nicht durch Adelsstand und Geburt vererbt werden. Welche geburts- und naturrechtliche Legitimierung mag eine „Ausländer-raus“ grölende Pegida-Demonstrantin bzw. ein „Schotten-wir-uns-ab“ twitternder NZZ-Journalist wohl anführen, um das vermeintlich angeborenes Recht auf ein warmes Plätzchen in der Wohlstandsgesellschaft zu rechtfertigen?
Mit seiner Bunker-Parabel aus dem Kapitel „Die drinnen und die draußen“ (Praktische Ethik / Practical Ethics, 2. Aufl., 1993) demonstriert der australischen Philosoph Peter Singer auf schlagende Weise, was Abschottungsverfechter am humanistischen Gleichheitskonzept so stört: Dass man in einer egalitären Gesellschaft nämlich als im Schutzbunker Lebender tatsächlich mit denen, die „da draußen“ gerade an radioaktiver Strahlung sterben, den Schutzraum teilen und dabei auf Tennisplätze und Swimmingpools – so Singers nicht unwitzige Versuchanordnung – verzichten müsste, um Schlafplätze für zusätzliche Bunkerbewohner zu schaffen.
Doch es gibt durchaus auch Affinitäten zwischen Neoliberalismus und Egalität. Denn der Tendenz des Neoliberalismus, politische Entscheidungen zu entdemokratisieren und in die Chefetagen der Konzerne zu verlegen, kommt der so genannte Mainstream entgegen, d.h. die technisch und medial gestützte Selbstausbeutung der Lohnabhängigen, die sich mit zum Teil unfassbar naiver Begeisterung digitalen Kontroll- und Standardisierungsmechanismen unterwerfen. Die Betreiber dieser neuen Form des digitalen Mitmachkapitalismus sträuben sich bezeichnenderweise keineswegs gegen „egalitäre“ Tendenzen im öffentlichen Raum, ganz im Gegenteil: Man propagiert „flache Hierarchien“, man duzt sich und arbeitet an einer möglichst homogenen Unternehmenskultur, in der technische und ästhetische Normen entwickelt werden, die geeignet erscheinen, den globalen Mainstream weiter auf Linie zu trimmen. Mode, Design, Sprache, Medien, Küche: Wohin man auch schaut, geht es um die möglichst globale Durchsetzung möglichst einfacher Standards, kurz: um Uniformisierung und damit um die Entwertung komplexer, schwer zu regulierender Individualität. Angesichts dieser zunehmenden Standardisierung erweist sich die Klage über die vermeintlich egalitären Exzesse des Sozialstaates nun vollends als ideologisches Ablenkungsmanöver. Denn ihre mediale Diskurshoheit soll vor allem eines verschleiern: Das spätkapitalistische (?) Paradox einer zunehmenden kulturellen und psychischen Entindividualisierung, sprich: Gleichmacherei, bei wachsender sozialer Ungleichheit.
Geht es um eine Rechtfertigung des Sozialabbaus, wird emsig das neoliberale Bild des „freien“ Selfmade-Menschen poliert. Geht es aber darum, bestimmte wirtschaftliche und informationstechnische Standards durchzusetzen, ist von Freiheit und Individualität, Offenheit und Vieldeutigkeit plötzlich keine Rede mehr. Moderne Konsumentinnen müssen sich binären Denk- und Kommunikationsmodellen („like“ / „unlike“) anpassen, technische, ästhetische, körperliche und soziale Standards akzeptieren, auf die sie keinen Einfluss mehr haben. Alltägliche Abläufe, bei denen wir unsere seit den 1960er und 70er Jahren mühsam erkämpfte, komplexe und variationsreiche Individualität zugunsten einheitlicher technischer Normen aufgeben, nehmen seit Jahren zu. Statt wie noch im bürgerlichen Liberalismus des 19. und 20. Jahrhunderts das einzigartige Individuum mit seiner unhintergehbaren Einmaligkeit zu zelebrieren und ihm dabei ein Maximum an „Selbstverwirklichung“ einzuräumen, entwickelt sich seit der Jahrtausendwende eine mit rasanter Geschwindigkeit fortschreitende – meist durch digitale Programme gestützte – Standardisierung unserer gesamten Lebenswirklichkeit.
Doch eine Kritik an solchen Spielarten marktkonformer „Gleichheit“, an der wachsenden Uniformisierung unserer Lebenswelt durch Algorithmen und Robotik, ist mit dem Schlagwort „spätegalitär“ freilich nicht gemeint. Denn es sind dieselben Kreise, die sich einerseits gegen egalitäre Sozialstrukturen wenden, sich „abschotten“ und ihre vermeintlich angeborenen sozialen und nationalen (Sonder-)Rechte verteidigen, andererseits aber bedenkenlos kulturelle, wirtschaftliche und technische Standards, sprich: eine technisch und wirtschaftlich genormte Globalkultur propagieren und durchsetzen. Dass sich die Global-Players bisher so ungebremst ausbreiten konnten, verdanken sie zu großen Teilen auch den nationalistischen Bremsern, die immer wieder dafür sorgen, dass supranationale Kontrollinstanzen wie UNO oder EU letztlich machtlos bleiben. Eine Arbeitsteilung der ganz besonders effizienten Art…
Doch diese bemerkenswerte, von rationalen wie irrationalen Impulsen gesteuerte Dialektik zeigt noch etwas anderes: Gleichheit und Gerechtigkeit sind nicht nur, wie der klassische Utilitarismus glaubte, rational durchdachte, womöglich vertraglich festgelegte gesellschaftliche Spielregeln. Der utopische Gehalt der Gleichheit hat nicht nur eine im engeren Sinne politische, sondern auch eine persönliche und zwischenmenschliche Bedeutung. Das Ideal der Gleichheit entspricht darüber hinaus – wie die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum gezeigt hat – einer emotionalen und moralischen Haltung und ist damit letztlich auch eine Frage der Persönlichkeit, ja des Charakters. Auch diejenigen, die glauben, in unserer Gesellschaft „spätegalitäre“ Tendenzen ausmachen zu können, haben diesen Zusammenhang von Denkhaltung und Charakter längst erkannt, wenn sie gegen „Gutmenschentum“ und „politische Korrektheit“ polemisieren. Statt ehrlich zu sagen, dass sie einfach keinen Bock haben, ihren Wohlstand mit anderen zu teilen, verstricken sie sich in immer neue, immer ausgeklügeltere Schlagwort-Spielchen. Ist es doch einfacher, dem ideologischen Gegner Heuchelei zu unterstellen als die eigene Gefühlskälte einzugestehen.
Doch wenn die raffinierten ideologischen Frames, die gewisse Journalisten der Wirklichkeit überstülpen, allzu eng werden, wenn die Dreistigkeit, mit der die Bunker-Mentalität aus Singers Parabel Privilegien als naturgegebene Rechte verkauft, allzu laut wird, sollte die altmodische „schöne Seele“ (psychē kalē / ψυχὴ καλή), über die sich bereits Goethe zu Unrecht lustig machte, vielleicht doch ab und zu protestierend ihre Stimme erheben. Fundamentale ethische Kategorien wie Gleichheit und Gerechtigkeit lassen sich nicht mit saloppen Bemerkungen und nonchalanten Verdikten wie „spätegalitär“ vom Tisch fegen. Gleichheit ist kein aus der Mode geratenes Design.
*** Vgl. hierzu auch folgende Studien: „Croissance et inégalités : Distribution des revenus et pauvreté dans les pays de l’OCDE“. Paris: OCDE, 2008. Und: „Toujours plus d’inégalité : Pourquoi les écarts de revenus se creusent“. Paris: OCDE 2011. – Die Wohlstandsschere geht in Russland, China und Brasilien am weitesten auseinander. Entsprechenden statistischen Untersuchungen für die Schweiz sind widersprüchlich. (Vgl.: Die Entwicklung der Einkommensungleichheit in der Schweiz. In: Social change in Switzlerland N°2, Oktober 2015. Ursina Kuhn u. Christian Suter. FORS und Universität Neuchâtel: Internetseite: http://www.socialchangeswitzerland.ch/?p=574, sowie Markus Grabka, Markus und Ursina Kuhn: Entwicklung der Einkommensungleichheit in Deutschland und in der Schweiz seit der Jahrtausendwende. In: Revue suisse de sociologie 38, 2, 2012: 311–334.) In den 1970er Jahren hat die Einkommenskonzentration in der Schweiz leicht abgenommen, in den 1980er Jahren wieder leicht zugenommen um im Jahr 2007 den höchsten Stand seit 1920 zu erreichen. Vgl. Schweizer Gini-Index der verfügbaren Haushaltseinkommen 1990-2012 (Steuerdaten).