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Brot für die Welt. Warum Dichter keine Kunstbäcker sind und Brote nicht rezensiert werden.

Veröffentlicht am 01.04.2016

Das Rollenfach des „poeta doctus“ ist genauso aus der Mode gekommen wie das des „poeta vates“. Denn wer bräuchte heute – im Zeitalter eines in Höchstgeschwindigkeit fortschreitenden und sich jedem definitiven Zugriff entziehenden Weltwissens – noch so etwas wie „gelehrte“ oder gar „sehende“ Dichter, die die Ingredienzen der Welt zusammenrechnen und auf einen universellen Nenner bringen, oder zweite Variante: den Kern der Dinge mit dem dritten Auge durchbohren? Da ist doch Skepsis angebracht!

Solche Methoden voreiliger Holistik sind uns (völlig zu Recht!) heutzutage suspekt: ästhetischer Totalitarismus, esoterische Protzerei. Aber man muss ja nicht gleich ins plumpe Gegenteil fallen, sich den hypermodernen Strukturen des kognitiven Kapitalismus ausliefern, beschleunigt und global sampeln, bloggen, slamen, selfpublishen, experimentieren und ironisieren, dass es nur so zischt und qualmt und die Ewigkeit verdattert in die Röhre schaut. Nein, literarischer Extremismus ist längstens passé. Auch hierzulande. Schon vor Jahrzehnten entlarvten festangestellte Kritiker aus Zürich die Wut der Avantgarde als pubertäre Macke, verdächtigten intertextuelle Labyrinthe als postmodernes Barock oder schickten allzu Abwegiges mit den Todesurteilen „beliebig“ oder „langweilig“ in den Orkus der Literaturgeschichte. Emil Staigers Avantgarde-Anathema von 1966 klingt auch heute noch nach. Sein in der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ) unter dem harmlos neutralen Titel „Literatur und Öffentlichkeit“ erschienener Bannfluch über literarische „Psychopathen“, „gemeingefährliche Existenzen“ und „ausgeklügelte Perfidien“ aus der Feder von Autoren, die, wie Peter Weiss, es wagten, „Scheußlichkeiten großen Stils“ aus „lichtscheuen Räumen“ wie z.B. Auschwitz auf die Bühne zu bringen, ist und bleibt unvergessen.

 

Und so gehen lebenstüchtige Autoren dann doch lieber hübsch bescheiden und vernünftig den Mittelweg der Professionalität, vermeiden es, wie Staiger formulierte, sich „zum Anwalt vorgegebener humanitärer, sozialer und politischer Ideen“ zu machen und damit einer „Entartung des Willens zur Gemeinschaft“ Vorschub zu leisten. Stattdessen begnügen sie sich, artige und „handwerklich saubere“ Sätze zusammenzuleimen, redlich das Feld der Grammatik zu bestellen und Storys so konstruieren, die für alle ein Dach über dem Kopf bieten. Bloß nichts Windschiefes, Schräges, Anstößiges, Maßloses, Unanständiges oder gar Unverständliches, keine Extravaganzen, obszönen Skandale, ätzenden Satiren, halbstarken Genieeinfälle, unendlichen Sehnsüchte und Utopien. Das berühmte Zitat des Pragmatikers Helmut Schmidt, wer Visionen habe, solle doch zum Arzt gehen, gilt inzwischen in weiten Kreisen auch für Kunst und Literatur. Hauptsache das artisanale Textmaschinchen läuft eigenhändig geölt und in bravem Einklang mit den (merkantilen) Rhythmen der Welt. Zur Präzisierung der jeweiligen Selbstmetaphorik identifiziert sich der Handwerker-Dichter  – je nach Elaboriertheit der aufgerufenen τέχνη – praktischerweise mit Schreinern, Schmieden, Gärtnern oder Bäckern, d.h. mit soliden und nützlichen Berufen, denen man vertraut und nichts Narzisstisches, Überhebliches oder gar Subversives unterstellen mag.

 

Freilich will niemand heute zurück zur alten Regelpoetik, finsteren Zeiten, in denen ein einflussreicher Literaturkritiker wie Gottsched behaupten durfte, ohne „Beobachtung der Regeln“ könne der Dichter „nichts Gescheidtes, Ordentliches und Angenehmes hervorbringen“. Für den Kritiker waren das goldene Zeiten, brauchte er zur Begutachtung eines Werkes doch nur zu überprüfen, ob die Regeln, die er und seine Vorgänger aufgestellt hatten, auch hübsch säuberlich eingehalten wurden. Zu diesem Behufe zählte er sodann Versfüße, bemaß Hebungen und Senkungen, überwachte aristotelische Einheiten, den edlen Charakter der Dramatis personae sowie die „bienséance“ ihrer gebundenen Rede. Niemand musste sich aufregen, mit subjektiven Einfühlungen und fragwürdigen Auslegungen herumschlagen, Debatten und Kontroversen über „Bocksgesänge“ und „Schlappschwanzliteratur“ führen, womöglich gar polemisch werden. Das änderte sich erst mit Lessing, der 1759 in seinem berühmten „17. Brief, die neueste Literatur betreffend“ mit Homer und dessen Helden Odysseus frech behauptete „Ich bin dieser Niemand“. Gemeint war jener anarchistischer Nobody, der sich von nun an erdreistete, just solche literaturkritischen Debatten zu führen. Zwar seien dank der Überwachungskünste und „mühsamen Vollkommenheiten“ des Kollegen Gottsched „Unsinn, Bombast, Schmutz und Pöbelwitz“ von teutschen Bühnen verschwunden, doch sei die Dichtkunst itzt und fürderhin nur mehr ein fades, fleischloses, literarisch korrektes Süppchen. Denn vertrieben habe man durch die Institutionalisierung der klassizistisch-höfischen Wohlanständigkeit nicht nur den eingeborenen Harlekin und seine derbe Klatsche, sondern gleich auch noch das feurige Genie samt aller Genien. Viele Zeitgenossen pflichteten Lessing schließlich bei. Ein Gedicht mache man „nicht nach dem Rezept wie das Frauenzimmer einen Pudding“, befand beispielweise Johann Elias Schlegel. Das war das Ende der Regelpoetik und der Beginn des Kritikerelends. Denn an welchen Maßstäben sollte sich dieser bei seiner hochverantwortlichen Aufgabe des Bemessens, Bewertens und Berichtigens von Literatur inskünftig orientieren? Wenn ein Gedicht nicht nach Rezept zusammen gerührt wird, wonach denn dann?

 

Vermutlich sah schon Gottsched den Dichter als soliden Handwerker auf goldenem Boden, freilich eher als Drechsler, Kunstschmied oder Zuckerbäcker denn als Schneider, Flickschuster oder einfachen Brotbäcker. Heutige Dichter-Handwerker haben hier ein eher proletarisches Selbstverständnis. Schreiben ist Basisarbeit. Brot statt Kuchen! Soviel Revolution muss sein, auch in den entlegensten Lyrik-Backstuben.

 

Einer, der es wissen muss, einer, der erst vor kurzem den wichtigsten Schweizer Literaturpreis erhielt, der Tessiner Lyriker Alberto Nessi, publizierte nun vor gut einer Woche unter dem Titel „Das Brot der Poesie“ einen Aufruf gegen die Politik in der Literatur. Der Dichter verrate, so erfahren wir im Feuilleton der NZZ, seine Poesie, sobald er wie ein Politiker oder Journalist zu gesellschaftlichen Themen Stellung beziehe. Denn der „Teig für das Brot des Dichters“ gehe nur auf mit „der Hefe seiner eigenen Worte“. Der Dichter spreche „auf unverwechselbare, überraschende und unvorhersehbare Art davon, wie der Mensch auf Erden lebt“, backe also, um im Bild zu bleiben, ausschließlich nach eigenem Rezept und mit seiner sehr speziellen, hochindividualisierten Hefe. Gedichte aus industriellen Großbäckereien, die ihre Produkte mit Trockenhefe und Glutamat zu appetitlichem Food-Design dopen, kommen ihm nicht in die Tüte.

 

Eigentlich mag ich diese Haltung. Sie ist mir aus Kindertagen vertraut. Denn sie erinnert mich an die Backstuben-Romantik meiner hessischen Großmutter. Jeder Bauernhof im Dorf meiner Großeltern hatte seinen eigenen Hefe- oder Sauerteigstamm. Als Kind konnte ich zwar keinen Unterschied herausschmecken, doch meine Großmutter behauptete, wenn sie nach stundenlangem Teigkneten und Ofenbefeuern im Gemeinde-Backhaus stolz die Kiste mit den gestapelten Broten präsentierte, nur die eigenen Laiber hätten diesen ganz besonderen hausgemachten Eigen-Duft. Alberto Nessi hätte den Brotduft meiner Großmutter bestimmt geliebt, und vielleicht wäre diese – hätte sie denn Lyrik gelesen – der Aura seiner Gedichte verfallen – wer weiß…

 

Nun entbehrt diese aktuelle Stellungnahme eines der wichtigsten Schweizer Lyriker nicht einer gewissen Pikanterie, sobald man sich nämlich beim Genuss seiner Poesiebrötchen vor Augen hält, dass diese just in einer Zeitung feil geboten werden, deren liberaler Geist auf den politischen Seiten neuerdings vermehrt mit populistischen Haltungen liebäugelt und damit immer deutlicher als aktiver politischer Player agiert, während er auf den Feuilletonseiten seinen Dichtern standhaft das „l’art pour l’art“ bzw. Staigers „sittliche Grundbegriffe“ verordnet. Die Literatur habe sich aus den Niederungen der sogenannten „Tagespolitik“ herauszuhalten. Gemeint ist offenbar „Tagespolitisches“ wie die europäische Flüchtlingskrise, die Probleme des globalen Kapitalismus oder die Klimaerwärmung. Richtig! Solche Themen gehören einfach nicht ins bürgerliche Feuilleton, „Streitkultur“ hin oder her.

 

Natürlich ist es schön, wenn ein Dichter auf der Suche nach dem goldenen Mittelweg jenseits politischer „Kloaken“ und „lichtscheuer Räume“ seinen Kritikern ein Stück weit entgegen kommt, besonders wenn es darum geht, am „Welttag der Poesie“ etwas ganz Grundsätzliches zu backen. Und wenn das NZZ-Feuilleton diese eigenbrö(t)lerische Haltung dann mit der Überschrift: „Das Brot der Poesie. Für politische Stellungnahmen taugt das poetische Wort nicht – es spricht seine eigene Sprache“ feiert, ist das zunächst auch vollkommen in Ordnung. In ordentlichster und sittlichster Ordnung. Denn Hefe, Brot und Dichtung sind ja eine alte und bewährte Allianz. Die Spätromantik feierte so manchen „Dichter in der Backstube“, glaubt man dem Titel eines Artikels von 1864. Der in dem gemütlich „illustrirten Familienblatt“ „Die Gartenlaube“ erschienene Beitrag bezieht sich zwar auf Jean Reboul, einen dichtenden Bäcker aus Nîmes, der für seine provenzalischen „pains de campagne“ neben rustikalem Roggen vermutlich auch so exotische Zutaten wie Rosmarin oder Knoblauch verwendete, das Phänomen war aber auch in deutschsprachigen Landen nicht ganz unbekannt. Nennen ließe sich hier unter anderen der Karlsruher Bäcker und Dichter Christoph Vorholz oder der Schweizer Bauerndichter Ulrich Bräker, dessen bodenständigem Rezept, man solle nur von der Speise predigen, die der eigene Magen selbst verdaut habe, grundsätzlich beizupflichten ist. Mit Brotbacken kannte Bräker sich gewiss so gut aus wie mit Pfaffen und ihren Predigten. Auch der holländische Pfarrer und Dichter Willem Barnard kannte die bewährte Mischung aus Dichtung und Brotmehl, wenn er postulierte: „Der Dichter ist ein Bäcker und ein Bauer. Er gehört zum Landvolk.“ Denn Barnard wusste, genau wie vor ihm schon Karl Heinrich Waggerl in seinem Blut und Boden-Klassiker „Brot“ von 1930, dass der Teig der Sprache analog zur Saat Gottes am besten aufgeht, wenn man nicht allzu viel unnötiges Gewürze beigibt, d.h. die feuilletonistische Verdauung nicht mit Politik oder sonstigen Ballaststoffen aus dem Takt bringt. Wer hier vielleicht einwirft, „große Dichtung“ wie Hölderlins Elegie „Brod & Wein“ sei ja wohl von anderem Schrot und Korn, dem ist zu entgegnen, dass Demeter auch ohne Dionysos durchaus Schmackhaftes zustande bringt.

 

Eine Ausnahme ist hier der neuerdings von Zürcher Feuilletonkritikern als politischer „Übermoralist“ und „Buchhalter des guten Gewissens“ geschmähte Berner Autor Lukas Bärfuss, dessen berufliche Laufbahn ausgerechnet bei einem Bäcker begann. Diesen für einen politischen Dichter ungewöhnlichen Start ins Berufsleben bekannte er vor einigen Monaten in einem Interview mit dem Chefredakteur der NZZ. Bärfuss habe mit „Kuchenblechwaschen“ begonnen, um dann „ganz nach oben“ in der Aufmerksamkeit des Publikums zu steigen, fasste das NZZ-Fernsehen diese erstaunliche Karriere vom Bäckergehilfen zum Meisterdichter zusammen. Dass Bärfuss in diesem Interview – vermutlich im Bemühen, der NZZ den Wind aus den Segeln zu nehmen – den Einfluss der Kunst auf das politische Handeln herunterspielte, ja regelrecht bestritt, ist nur ein Kuriosum am Rande dieses auch insgesamt recht kuriosen Gesprächs. Denn als Bärfuss sich auch nach 20 Minuten noch weigerte, die im zugedachte Rolle des politischen Rumpelstilzchens zu spielen, sorgte der NZZ-Chefredaktor schließlich selbst für die Verkupplung von Literatur und Politik. Mit seiner Bemerkung: „Schreiben verändert die Welt mehr als alles andere“, rückte er den Teig des Dichters nun aber gefährlich nahe an die Backöfen der Welt. Lukas Bärfuss hätte das, wäre er nicht so aus der Rolle gefallen, kaum besser formulieren können. Glücklicherweise hatte man mit Alberto Nessi bald darauf einen zweiten Dichter zur Hand, der – diesmal auf den Feuilletonseiten – das halb verkohlte Dichterbrot aus dem Ofen holte und zurück in die Auslage brachte. Rätseln mag man freilich über die Frage, wieso ein Dichter wie Bärfuss seinen politischen Furor herunter dimmt, wenn er einem NZZ-Chefredakteur gegenübersitzt. Vermutlich hatte er sich mit seinem Bekenntnis zur Bäckerzunft selbst den politischen Boden unter den Füßen weggezogen. Denn wer seine Dichterbrötchen hübsch artig und bescheiden im Gemeinde-Backhaus backt, kommt als Polit-Rowdy ja wohl kaum mehr in Betracht.

 

Zugegeben: wir leben nicht vom Brot allein. Auch nicht vom Dichterbrot. Und wenn wir für unser tägliches Brot beten bzw. dafür auf die Straße gehen, uns als Dichter und Dichterin unter unpoetischen Spruchbändern zusammenrotten, dann mag mancher Kritiker – ähnlich wie 1789 der französische König, als er den Protestmarsch der Pariser Frauen in Versailles empfing – glauben, es gehe uns billigerweise um Brot und Spiele. Panem et circensis sind das Opium des Volkes, gewiss. Doch was wäre die Dichtung ohne Opium und ohne Spiel? Ohne Feuer im Ofen? Ohne Politik und ohne Utopie? Trocken Brot aus Trockenhefe! Das mögen die sehr feinen Damen und Herren des Feuilletons bedenken, bevor sie preisgekrönte Dichter zu Erbaulichkeitsimperativen und unpolitischen Statements verführen. Auch sollte man sie hin und wieder an Bertolt Brecht erinnern, der die ewig brennende Frage, wovon der Mensch denn nun eigentlich lebe (von Luft & Liebe, Gottes Wort und Gottes Lohn usw.), mit der schlichten Wahrheit vom Tisch wischte: „Erst kommt das Fressen und dann kommt die Moral!“ und damit der Beschaffenheit des poetischen Teigs eine klare Rezeptur verpasste. Die „L’art pour l’art“-Rosinen können sich die Rezensenten dann ja selbst herauspicken.

 

Natürlich ist es ungerecht, dass sich das gesamte Rezensionswesen vornehmlich auf Kunst und Literatur konzentriert und die Bäcker ungeschoren lässt. Vergebens sucht der Brotkonsument nach Backrezensionen, Brötchenkritik, nach deutlichen und unbestechlichen Worten über fades Weißmehl, lappige Croissants, ungenießbares Zuckerzeugs oder Hartweizenbrot ohne Biss. Die Rezension ist das Schwarzbrot der Kunst. Niemand liest den Bäckern die Leviten, zeigt Kuchenblechwäschern, wo der Schrubber hängt. Niemand. Wo ist der Gottsched der Bäckerzunft, ist man versucht zu rufen, wo ihr Emil Staiger oder Reich-Ranicki? Wer kontrolliert Rezepte und Backstuben, bespricht das frisch aus dem Ofen kommende Blech? Ein skandalöses Manko des Kulturbetriebs! Denn schichtet die unsichtbare Hand des Marktes, die mit Takt und Feingefühl Mehl und Ruhm verstreut, Gewinne für die einen, Krümel und Brosamen für die anderen, nicht auch gewaltige Torten aus symbolischem Kapital? Warum sollte dem Bäcker, nur weil er sich unpolitisch hinterm Ofen versteckt, hier ein Extrawurstbrötchen geschmiert werden? Wer öffentlich seine Brötchen bäckt, sollte auch öffentlich dafür einstehen!

 

Auch das war früher eindeutig besser. So pflegte das (in vielen Belangen gar nicht mal so finstere) Mittelalter in puncto Brot ein strenges Rezensionswesen. Mit einer „Bäckerschupfen“ oder „Bäckertaufe“ genannten Bestrafungsform sorgte man damals dafür, dass Bäcker, die Brot von zu geringem Gewicht oder von minderwertiger Qualität verkauften, an den Pranger gestellt wurden. Dies geschah, wie bei Rezensionen allgemein üblich, öffentlich. Man feierte das Bäckerschupfen als eine Art Volksbelustigung. Panem et Circensis! Der schuldig gesprochene Dichter, pardon: Bäcker, wurde in einen sogenannten Schandkorb gesteckt, ins Wasser oder in den Dreck getaucht, mit Steinen beworfen und Schmähworten gerügt.

 

Doch die Sache mit den Dichtern und Bäckern hat noch ein Nachspiel. Seit geraumer Zeit wächst nämlich die Zahl der Bäcker, die sich plötzlich für Dichter halten. Und damit gerät die Metapher vom Brot des Dichters, das anders schmecke als das Brot für die Welt, vollends in eine avantgardistische Schieflage. Bildspender und Bildempfänger werden nämlich austauschbar: Empfängt der Dichter das Bild des Bäckers, sendet er es sogleich wieder zurück. Und dann steht er da, der Bäcker, dreht und wendet sich im Bild des Dichters und findet zunehmend Gefallen an seiner neuen Rolle. Das gilt auch für meinen eigenen Bäcker, den ich beim Einkaufen heimlich beobachte, wie er seine Baguettes und Croissants feierlich mit Glacéhandschuhen berührt, verstohlen streichelt, beidseitig anhebt und achtsam in der Vitrine aufbahrt, dabei die Augen schließt und den Duft seiner speziellen Teigmischung einatmet. Seine Gesten haben etwas Rituelles, Poetisches, den schnöden Akt des Backens und Verkaufens Verklärendes. Und wenn ich dann am nächsten Morgen im Schaufenster meiner Bäckerei perfekte Jamben lese wie: „Im Picknick-Korb kein Roggenbrot? Da sieht selbst Tante Betty rot“, oder Knittelverse wie: „Der Captain sagt zum Copilot: komm gibt mir mal mein Stangenbrot!“, aber auch kühne Wechsel zum Trochäus wie: „Dinkelbrot ist schwer im Kommen, ich hab gleich mal eins mitgenommen“, dann verstehe ich, warum das Brot des Dichters sich gerne am Gedicht des Bäckers orientiert. Denn hat diese Lyrik nicht einen einladend gemütlichen Ton? Man möchte daran schnuppern, herzhaft hinein beißen, einfach nur genießen. Und dabei nicht an steigende Brotpreise denken, die Revolutionen auslösen, ob im alten Frankreich oder im modernen Ägypten. Gott bewahre!

 

Doch nicht auszudenken, wenn solche Bäcker-Dichter oder Dichter-Bäcker nun Schule machen, wenn bald auch andere ehrbare Berufe wie Schuster, Automechaniker und Versicherungsvertreter hingehen und sich ebenfalls der Dichtkunst widmen! Ich brauche keine lyrischen Spruchbänder an den Pneus, wenn ich meinen alten Toyota im Frühjahr zum Reifenwechsel bringe. Und wenn ich beim Metzger ein paar Bratwürste erstehe, möchte ich nicht mit Knitteleien belästigt werden wie: „Zürcher Würstchen schmecken fein, man glaubt es kaum, sie sind vom Schwein!“ oder beim Immobilienhändler mit Sprüchen: „Der Boden ist das A und O, die Preise steigen sowieso!“ zur schnellen Investition gelockt werden. Nein, das möchte ich nicht. Die Poesie spricht, wie Alberto Nessi sagt, ihre eigene Sprache. Dasselbe gilt für Dinkelbrot, Autoreifen, Zürcher Würstchen und Grundstückspreise. Man sollte diese Dinge nicht miteinander vermengen. Trennkost ist die beste Schonkost. Für alle. Oder fast.

 

Manchmal wünschte ich, die Sache mit dem Brot und der Welt und der Poesie wäre bloß ein Märchen. Dann würde ich wie die tapfere Gretel das Böse im Backofen entsorgen, und mich nicht vor meiner Aufgabe drücken wie die faule Pechmarie, die Angst hatte, sich die spitzen Finger am heißen Eisen der Ofentür zu verbrennen. Denn wenn das Brot im Ofen schreit: „Zieh mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenn ich!“ oder das syrische Kind an der türkischen Mittelmeerküste: „zieh mich raus, zieh mich raus“, oder die pakistanische Näherin unter der eingestürzten Textilfabrik: „zieh mich raus, zieh mich raus“, und wenn sie alle noch so laut schreien: „zieh mich raus, zieh mich raus!“, soll ich dann wirklich schweigend am Brot der Poesie knabbern und über neue Teigrezepte nachdenken wie das dumme Frauenzimmer in Schlegels kleiner Parabel über die Dichtkunst?