Ihre Browserversion ist veraltet. Wir empfehlen, Ihren Browser auf die neueste Version zu aktualisieren.

Das Corona-Wir. Oder: Hat die Wirklichkeit das Recht, sich der Literatur zu entziehen?

Veröffentlicht am 01.05.2020

Was kann/soll/muss/darf Literatur, wenn die Realität nicht mehr zu toppen ist? Wenn es spannender ist, auf die Straße zu gehen oder Nachrichten zu hören als einen Krimi, einen Fantasy- oder Abenteuerroman zu lesen?

In seinem legendären Aufsatz „Es geht um den Realismus“ von 1938 vertritt der marxistische Literaturtheoretiker Georg Lukács dazu eine klare Meinung: „Die Entwicklung der Literatur ist – besonders im Kapitalismus, besonders zur Zeit seiner Krise – eine außerordentlich komplizierte Erscheinung“. Zwei gegensätzliche Reaktionen stünden in Krisenzeiten zur Auswahl: die erste Möglichkeit sei die „Liquidierung“ des Realismus wie sie die Vertreter der klassischen Avantgarde propagierten, auf der Gegenseite aber hielten sich wackere Realisten parat wie Maxim Gorki, Romain Rolland und die Gebrüder Mann, um der Wirklichkeit die Stirn bzw. Paroli zu bieten. Andere Marxisten, allen voran Ernst Bloch, hatten Lukács nämlich vorgeworfen, er mache sich mit seinem naiv naturalistischen, „objektivistisch-geschlossenen“ (sprich: klassizistischen…) Realismusbegriff gemein mit der (schlechten) Wirklichkeit. Widerspiegelungsrealismus sei nichts als eine unkritische Verdoppelung der katastrophalen Zustände. Dabei gehe es, so Bloch, in Kunst und Literatur doch gerade darum, „Neues in den Hohlräumen zu entdecken“, Experimente mit der Wirklichkeit anzustellen, um deren utopisches Potenzial aus den verkrusteten Löchern zu locken und sie damit vor sich selbst zu retten.

 

Lukács entgegnete, bei seinem Realismuskonzept handle es sich mitnichten um naive, naturalistische 1:1-Widerspiegelung des Gegebenen, denn schließlich wisse jeder Marxist, dass „die grundlegenden Kategorien des Kapitalismus sich in den Köpfen der Menschen unmittelbar stets verkehrt widerspiegeln“. In der Krise (und der Kapitalismus sei eine permanente Krise…) werde das Denken ideologisch, politische Machtverhältnisse würden naturalisiert, ökonomische Zusammenhänge kaschiert und verdreht: Unterdrücker und Ausbeuter stilisierten sich zu Landesvätern und Patriarchen, während sie Ausgegrenzte und Ausgebeutete zu freien TeilnehmerInnen eines freien Marktes verklärten. So jedenfalls verstehe ich diesen Satz von Lukács. Die Krise trübt den Blick, entrückt und verstellt Naheliegendes, gaukelt Entferntes oder Illusorisches als erreichbar und begehrenswert vor. Bertolt Brecht meinte etwas Ähnliches, als er 1931 für eine nicht-naturalistische Kunst plädierte: „Die Lage wird dadurch so kompliziert, daß weniger denn je eine einfache ,Wiedergabe der Realität‘ etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Krupp-Werke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht.“

 

Diese hochrabulistische Debatte unter vom Faschismus bedrohten Marxisten, die unter dem Namen „Expressionismusdebatte“ in die Literaturgeschichte einging, ist heute nahezu vergessen. Doch sie entzündete sich an einem tief im Fleisch der Literatur sitzenden Stachel, der bis heute juckt und brennt und von keiner noch so salbungsvollen Rede besänftigt werden kann. Ist es Aufgabe der Literatur, die Realität abzubilden? Kritisch zu kommentieren, gar zu verändern? Oder soll sie diese überwinden, vielleicht sogar transzendieren zu einer höheren, tieferen oder einfach nur besseren Wirklichkeit? Soll sie Handlungsanleitungen geben, Modelle und Utopien entwerfen, zum Nachdenken anregen oder Trost spenden? Ich meine, sie kann und darf das alles, wenn möglich sogar im selben Satz oder Vers. Doch was tun, wenn die Realität sich gänzlich oder zu großen Teilen entzieht? Wenn sie nicht nur, gemäß Lukács oder Brecht, ihr äußeres Erscheinungsbild fälscht, sondern auch analytisch kaum mehr zu fassen ist? Wenn sie einfach nicht still hält, während ihre Beobachterinnen, Erklärer und Verklärer das Objektiv justieren? Wenn – wie seit Beginn der sogenannten Corona-Krise vor bald vier Monaten – alles viel zu schnell geht, um sich auch nur einen wirklich stabilen und adäquaten Gedanken, geschweige denn Reim auf das zu machen, was soeben geschieht? Erfreulicherweise sind für einmal fast alle bereit, sich an Fakten zu orientieren. Was aber sind diese Fakten? Kaum hat man so einigermaßen kapiert, worum es geht, wie sich was, wo, bei wem, in welcher Geschwindigkeit und seit wann verbreitet, wie man, frau, kind sich wie, warum, ab wann, wo und womit schützt, schon spielt die Wirklichkeit ihr Drama auf einer neuen Bühne, wechselt das Personal, wenn nicht gar das Thema. Die Vernünftigeren unter Expertinnen und Politikern halten sich an Sokrates und seine Devise: Ich weiß, dass ich nichts weiß.

 

Trotzdem bleibt der Ruf nach Sinnstiftung gewaltig, allenthalben erschallt sein dröhnendes Pathos, niemand will zurückstehen im Wettstreit der Deutungen. Überall wird derzeit geunkt und gefunkt, ein- und abgeschätzt, spekuliert, dass es nur so kracht. In Talkshows und Zeitungsfeuilletons, Internetblogs, Podcasts, in den sogenannten Sozialen Medien, sogar auf den Webseiten von Universitäten, Verlagen, an- und abgesagten Literaturfestivals. „Wir“ seien jetzt zu mehr Besinnung aufs Wesentliche aufgerufen, heißt es da, zu mehr Menschlichkeit und Solidarität, zu Konsumverzicht, zur Beschäftigung mit unserer Familie und unseren natürlichen Ursprüngen, aber auch mit unserer Vergänglichkeit, endlich werde der Unterschied zwischen der realen Welt und einer Computersimulation fassbar. Weniger metaphysisch angehauchte Stimmen warnen vor Sozialismus und Verstaatlichung oder nutzen die Stunde, um die radikale Digitalisierung von Schulen zu predigen, einzelne, mehr oder weniger zurechnungsfähige Politiker bezweifeln bereits das Grundrecht auf Leben oder empfehlen die Injektion von Desinfektionsmitteln. Die Pandemie werde „uns“ und unsere Gesellschaft fundamental verändern, und sei es auch nur dahingehend, dass danach endgültige Gewissheit darüber herrsche, dass der Mensch an und für sich und ganz grundsätzlich nun mal nicht zu ändern sei. Es sei vernünftig, ganz normal oder übertrieben, wahlweise auch nur neurotisch, wie „wir“ mit „unserer“ Angst umgehen, wie „wir“ „unsere“ Gesundheit, „unsere“ Kinder und Eltern, „unser“ Land und „unsere“ Wirtschaft schützen.

 

„Wir“, die Gesellschaft, „wir“, Europa, „wir“, die Menschheit. Da ist er wieder, der Kollektivsingular der selbst ernannten Schwarmintelligenz: „wir“, „uns“, „wir alle“, „unser aller“, rufen sie von den Kanzeln der Krise, blasen – trotz ,social distancing‘ – ins selbe Horn, sprechen mit einer Stimme, aus einem Blickwinkel, generalisieren was und wie es ihnen passt: ein Volk, ein Virus, eine Realität. Eva und Otto Wiralle, brave Leute, brav zusammengepfercht in einem, nämlich demselben schwankenden Boot – ein schönes Paar, ein schönes, ein beruhigendes Bild. Ein Bild, über das gesprochen wird, und geschrieben, und noch mehr gesprochen und noch mehr geschrieben, gechattet, gebloggt, gefunkt und geunkt. Warum auch sollte dem epidemischen Shut-down der allgemeine Shut-up folgen? Das ist kaum zu erwarten. Nicht einmal von diesem, meinem eigenen Blog. Nein, ganz im Gegenteil: Schließlich entsprechen die diversen, täglich, ja stündlich neu formatierten Bildbeschreibungen der Wiralle-Sippe, die möglichst genau oder wenigstens möglichst originell schildern und analysieren, in welcher Geschwindigkeit und mit welchem Ziel „wir“ Evas und Ottos da gemeinsam und in trauter Eintracht auf dem „uns“ zugewiesenen Einheitskahn herum schaukeln, ja nur dem verzweifelten Versuch, öffentlich präsent zu bleiben. Wer eingeschlossen ist, muss sich mit Lärm bemerkbar machen, das weiß schon jedes Kind.

 

Täglich kommen neue Evas und Ottos dazu und reihen sich ein in den Chor der Wir-Sager. Besonders die Feuilletons ,großer‘, will sagen: konservativer Tageszeitungen bieten ihre Dienste als Sammelstelle für philosophisches Kleinholz und zeigen dabei einen gewissen Hang zur bewährten apokalyptischen Schwermut österreichischer AutorInnen. Thomas Glavinic schreibt ein Tagebuch, das er „Corona-Roman“ nennt und in der Tageszeitung „Die Welt“ publiziert, das Wochenmagazin „Der Spiegel“ hält sich hingegen an die „Corona-Dialoge“ von Daniel Kehlmann, während Nicolas Stemann eine „Corona-Chronik“ für die Neue Zürcher Zeitung schreibt. Doch auch weibliche Stimmen halten mit bei der Wir-Sinn-Suche. So erklärt „uns“ Marlene Streeruwitz in ihrem „Covid19-Roman“ mit dem unsokratischen Titel „So ist die Welt geworden“, warum diese so geworden ist. Immerhin tut sie dies (feiner und klüger als ihre erfolgreicheren Landsmänner...) auf einer fiktionalen Meta-Ebene und nicht als persönlichen Besinnungsaufsatz wie die offenbar vollends ver-wir-te französische Bestseller-Autorin Leila Slimani, die für ihr in „Le Monde“ publiziertes „Journal du confinement“ (vermutlich völlig zu Unrecht!) einen Shitstorm aus der Pariser Banlieu erntete. Sibylle Berg und Doris Dörrie haben sich anscheinend auch schon zu Wort gemeldet, wie ich gerade erfahre.

 

Doch das Corona-Wettdeuten fängt gerade erst an: Im Feuilleton der NZZ meldeten sich gestern (30. April) gleich drei bedeutende Literaten mit Wir-Merksätzen zu Wort: Der Schweizer Franz Hohler sowie, im Dialog, die Österreicher Franzobel und Robert Schneider. Während der eine die solidarischen Töne eines nachbarlichen Balkonsaxophons beschwört, raunen die anderen beiden über den aktuellen „Zusammenbruch der Wirtschaftsordnung“: Die Demokratie befinde sich „in Vollnarkose“ bzw. unter der Knute einer „Gesundheitsdiktatur“, kurz: „Weltuntergang live“. Im Gespräch schaukeln sich die beiden gegenseitig hoch. Doch die Talfahrt des Kollektiv-Kahns, immer noch voll beladen mit Evas und Ottos, scheint das nicht zu bremsen. Im Gegenteil: Im Wetteifer um die Deutungshoheit versucht halt jeder, den anderen wenn nicht argumentativ, so doch wenigstens apokalyptisch zu überbieten. So läuft nun mal das Geschäft. Vorher und während der Krise, vielleicht auch danach. Die Versuchung, die eigene Befindlichkeit aufzubauschen und anderen überzustülpen, war auch vorher schon groß. Das Interview endet mit Franzobels vollmundiger Prophezeiung: „Ich glaube nicht, dass es aus diesem Albtraum jemals ein Erwachen gibt.“ Na Servus! Viele greifen da lieber gleich zur Offenbarung des Johannes, oder wenigstens zu Camus und Boccaccio. Dabei wäre ein Roman wie Marlen Haushofers Die Wand (wieder eine Österreicherin!) wohl passender.

 

Ich kann solche Mahnungen und erhabenen Orakel nur zu gut verstehen. „Corona“ – das ist so ein schönes Wort! Der poetische Mehrwert zergeht einem quasi auf der Zunge. Doch der Titel ist schon lange nicht mehr geschützt: Von Martin Bodmer über Paul Celan bis Star-Trek, sie alle ließen sich anstecken vom Zauber des Wortes. Es gibt eine Heilige namens Corona, einen Vulkan, ein Sternbild, eine Automarke, das vielzitierte Bier nicht zu vergessen. Auch Goethe soll beeindruckt gewesen sein von Corona Schröter, einer heute vergessenen deutschen Komponistin. Und in einem der Asterix-Bände taucht „Coronavirus“ als tollkühner Wagenführer auf, der sein wildes Gespann durch die engen Gassen des antiken Rom jagt.

 

Es geht um den Realismus. Wie gesagt. Um literarische Relevanz. Darum, wie man über das Leben schreibt in Zeiten von Corona. Mit Herzblut und vielen Beispielen. Der Stoff scheint erdrückend. In Deutschland horten Eva und Otto Nudeln und Klopapier, in Frankreich Rotwein und Kondome, in den USA Waffen und Munition, in England Bier, in Italien vergammeln Vollkornspaghetti in den Regalen. Das wäre doch schon mal eine schöne Einleitung für ein weiteres launiges Corona-Aperçu, oder?

 

Doch ob das helfen würde, ob Literatur hier noch helfen kann? Frage ich leise und klammheimlich und staune über befreundete (Sachbuch-)Autoren, die unverzagt eine minuziöse, faktenverliebte Corona-Tageschronik schreiben oder neue Alltagsrituale schildern wie ein Drei-Gänge-Menü mit Gästen via Skype. Andere hingegen schreiben, genau wie ich, momentan gar nichts. Denn wenn die Realität in Wirklichkeit so ganz anders ist als alles, was ich von ihr weiß, wenn sie alles in den Schatten stellt, was ich begreifen und mir ausdenken kann, dann wird aus dem poetischen Reflex, ihrer noch so vermittelten, mit allen dialektischen Wassern gewaschenen literarischen Darstellung nur hilfloses Gestammel und Geschwätz.  

 

Als ich vor einigen Jahren meinen dystopischen Paris-Roman schrieb, in dem ich die Ich-Erzählerin Charlotte von Manteuffel bei über 45 Grad Hitze (Stichwort "Climate Fiction" ...) in eine enge Mansarde im 5. Pariser Arrondissement einsperrte und einer generellen emotionalen und zerebralen Überhitzung aussetzte, während unten auf den Straßen das Chaos regiert und alle Versorgungssysteme zusammenbrechen, versetzte ich mich beim Schreiben immer wieder in diesen seltsam unwirklichen Zustand des „confinement“, der Ausgangsbeschränkung oder des Shutdown (seltsamerweise scheint es dafür kein valables deutsches Wort zu geben), spielte in Kopf und Körper alles durch, was dazu gehört: die Einsamkeit, den allmählichen Verlust des Realitätsgefühls, das Sich-Verstricken in Erinnerungen, das Warten auf Erlösung, die Verlangsamung aller vitalen Funktionen, das Stillstehen der Zeit, die Verwirrung der räumlichen Bezüge. Das alles war sehr konkret. Denn ich musste es mir sehr genau ausdenken, Schritt für Schritt durchspielen, bevor ich es erzählen und aufschreiben konnte. Émile Zola, der Erfinder des „Experimentalromans“ wäre stolz auf mich gewesen... Doch nun merke ich, wie anders es sich anfühlt, in Wirklichkeit in Quarantäne zu sein. Was mir heute literarisch in den Sinn kommt, erscheint geradezu läppisch angesichts der Katastrophe – der realen, nicht der ausgedachten. Ich stelle fest, an wie viele ganz wesentliche Dinge ich damals gar nicht gedacht habe, zum Beispiel daran, dass ich momentan keine Ahnung habe, wie es weitergeht. Das ist beim Romanschreiben zwar auch nicht immer der Fall, doch im Prinzip hat man es in der Hand – und da stößt Zolas „Experiment“ an seine Grenzen – ob man seine Heldin sterben oder weiterleben lässt. Zum Beispiel. Über das, was jetzt gerade geschieht, kann ich nicht schreiben. Es gibt bei mir kein „Wir-Gefühl“, kein „Wir-Bewusstsein“, vielleicht mit Müh & Not ein Ichgefühl. Und das hat nichts mit einer trivialen Schreibblockade zu tun, es ist auch keine Chandos-Krise oder ähnlich Hochtrabendes, eher schon mag es mit dem zu tun haben, was Rilkes in Paris herumirrender Malte Laurids Brigge das „Offene“ nannte, und für das sein Autor keine Worte fand.

 

Blaue Stille. Es ist zum Schreien schön. Seit Wochen schon. Haushofers Wand. Irgendwo da draußen, unsichtbar, in sicherer Entfernung. Nie hatte das, was ich real sehe, spüre und empfinde, so wenig zu tun mit dem, was tatsächlich gerade geschieht. Ich meine nicht die Banlieue von Paris, nicht das, was seit Wochen in Schweizer Obdachlosen-Unterkünften und griechischen Flüchtlingslagern passiert, in den Romasiedlungen des Irak, den Gefängnissen von Mexiko-City, den Slums von Mumbai und Armenvierteln von Guayaquil. Nein, ich meine das hier oben, in den Wiesen und Wäldern oberhalb des Genfersees, knapp unter dem schreiend blauen Himmel. Wie lässt sich so etwas sagen, zeigen, vertonen, darstellen? JedeR, die/der in den letzten Wochen auf Wanderschaft ging, im begrenzten Radius der zu Fuß erreichbaren Orte, unter dem blendenden Hohn der Sonne, weiß, wovon ich spreche. Es ist ... Gestern kam der Regen. Und mit ihm die ersten Worte.