In Schülerkreisen gilt Literaturwissenschaft als sogenanntes „Laber-Fach“. Nie weiß man ganz genau, was eigentlich Sache ist. Das macht sie in den Augen gewisser Leute und Kreise überflüssig, wenn nicht gar verdächtig. Wieso drücken Dichter sich nicht so präzise aus, dass einfaches Lesen zum Verständnis reichen würde? Dann bräuchte es gar kein zusätzliches „Gelaber“, keine Textauslegungen und Interpretationen!
– Kluge Schüler und Studentinnen stellen genau solche Fragen, und wehe, wir wissen keine Antwort! Ja, wozu das ganze Gelaber? All die langwierigen exegetischen Bemühungen? Als handle es sich um Gottes vernebeltes Wort? Weil, so raunen wir mit pädagogisch aufgesetztem Lächeln, ein guter Text „mehrdeutig“ ist, polysemantisch, sozusagen. In einem dichterischen Satz steckt mehr als nur die Aussage. Aha!, fragt die neunmalkluge Schülerin weiter, aber kann der Dichter denn nicht einfach zwei Sätze sagen statt alles in einen einzigen zu verdichten? – Und das ist dann der Moment für ein paar sehr, sehr grundsätzliche Überlegungen.
Denn ist „zweideutig“ tatsächlich mehr als „eindeutig“? Haben Vieldeutigkeit und Mehrdeutigkeit wirklich einen Mehrwert? Ist es nicht besser, wenn sich die Dinge eindeutig verhalten, das heißt: deutlich so oder nicht-so sind, entweder / oder? – Was, bitte, verstehen Sie unter „Dinge“? wird man jetzt vielleicht schon dazwischen fragen wollen. Völlig zu Recht, wie ich sofort kleinlaut zugebe. Denn leider beginnt schon hier das Dilemma. Natürlich möchte ich nicht, dass mein Chirurg vor der OP die Mehrdeutigkeit meiner Blutgruppenzugehörigkeit erwägt, oder der Busfahrer die Zweideutigkeit einer roten Ampel. In solchen Fällen sollten die Dinge, die ich jetzt einfach mal „Dinge“ nenne, obwohl ich weiß, dass die Schublade viel zu groß ist, um Ordnung darin zu halten, eindeutig, ja zweifelsfrei sein. Doch schon bei der Frage, ob heute „schönes Wetter“ ist oder nicht, geraten wir in eine subjektive Schieflage. Würde man zu diesem Thema eine Volksbefragung anstellen, käme dabei wahrscheinlich etwas ähnlich demokratisch Gemischtes und Zwielichtiges heraus wie bei der Abstimmung über die sogenannte „Masseneinwanderung“. Auch bei der Frage nach der Qualität eines Films, der Schönheit eines Gesichts oder dem optimalen Fettgehalt von Bratwürsten sind verschiedene Antworten zu erwarten. Klammern wir Geschmacksfragen also mal aus und nehmen stattdessen naturwissenschaftliche oder juristische Beispiele, also „Dinge“ mit einem prinzipiellen Anspruch auf Eindeutigkeit. Die Schwerkraft zieht die Dinge nur in eine Richtung, der Zeitpfeil ebenfalls. Punkt! Und ein Richter darf nur Fälle und Dinge verurteilen, die auch tatsächlich der Fall sind. Entweder – oder! lautet hier die Maxime. Schuldig oder nicht-schuldig!
Für Dinge, die sich als „Tatsachen“ verstehen und einen Anspruch auf logische Betrachtung erheben, gilt seit Aristoteles das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten. Tertium non datur! Basta! Für einen Richter, der mich z.B. für einen Ladendiebstahl verknacken möchte, obwohl ich Bücher und Klamotten ganz prinzipiell nur ausleihe, stapele und trage, niemals aber klaue, bedeutet das im Zweifelsfall: In dubio pro reo! Freispruch, selbst bei Verdacht auf geklaute Zitate. Damit sind die Juristen natürlich fein aus dem Schneider! Statt lange herum zu labern, werden die Dinge eben begnadigt. So einfach und bequem ist das mit der Eindeutigkeit. Für Juristen und Naturwissenschaftler jedenfalls.
Kulturwissenschaftler hingegen haben keine Lizenz zur Begnadigung der Dinge oder zum Ausschluss von Dritten. Sie müssen jeden hereinlassen, alles erstmal so stehen lassen, weder pedantisch noch bürokratisch sein, sich stattdessen ganz auf Verstehens- und Verständigungs-Prozesse konzentrieren, permanent die eigene Perspektive überprüfen. Doch das heißt letztlich auch: zu- und einordnen, vergleichen, interpretieren, strukturieren, erklären, gewichten, das Mögliche scheibchenweise und mit großer Vorsicht aus dem Unmöglichen herausschälen, kurz: labern. Doch je weiter man bei diesen Häutungen und Tiefenbohrungen meint, zum Kern des Eigentlichen vorzudringen, desto größer und vielschichtiger werden die Gänge und Stollen, Querverbindungen, Korridore, die ein Ding mit dem nächsten verbinden. Niemand kennt die Karte des Labyrinths. So etwas wie „Weltformeln“, die alle Dinge auf einen Nenner bringen und auf einfachste und eindeutige Grundprinzipien reduzieren, gibt es in der Kulturwissenschaft nicht. Schnell tritt hier ein Drittes in den Raum, bald auch ein Viertes und Fünftes und so weiter. Sie alle wollen gehört und verstanden werden, sie alle halten sich für wahr und sind es wahrscheinlich auch. Jedes auf seine subjektive Art.
Selbstverständlich wissen inzwischen auch Juristen und Mathematiker, dass die Wahrheit relativ ist, dazu braucht es keine Nietzsche-Lektüre, das hat sich unter den Dingen und denen, die sie verwalten, längst herumgesprochen. Wahr ist nicht nur, was sich messen, beweisen und beobachten lässt, sondern auch das, was einfach gedacht werden kann. Und da ist so einiges möglich. Oder anders herum formuliert: Subjektivität ist wie ein unsichtbares Körpergift, wie Schlacken, die sich nie restlos eliminieren lassen – eine klebrige, für Anhänger der Eindeutigkeit womöglich eklige Substanz, die sich allenfalls durch drastische Maßnahmen wie Fastenkuren, konsequente gedankliche Hygiene und eiserne Disziplin vorübergehend aus dem Körper der rationalen Zahlen, Zeichen und Paragraphen verbannen lässt. Doch ein Rest bleibt immer. Um den kümmert sich die Philosophie. Und was die übrig lässt, teilen sich Literatur und Theologie.
Die Wahrheit sei „ein bewegliches Heer von Metaphern“, hat Nietzsche behauptet und sich gewiss dabei ins Denkerfäustchen gelacht. Er wusste nur zu gut, wie solche losen Sprüche bei den Herren Moralisten, Formalisten und Positivisten ankommen würden. Inzwischen hat man den Skandal beseitigt, indem man die Welt des Wissens – analog zum menschlichen Gehirn – ganz einfach in zwei Hemisphären teilte. Oben wohnen die Ingenieure und Priester der Eindeutigkeit, unten die akademischen Schmuddelkinder, die sich mit der Vieldeutigkeit herumplagen. Manchmal treffen sich alle zu interdisziplinären Ritualen am Äquator und vermessen den Bauchumfang des Wissens. Die Eindeutler benutzen zu diesem Anlass dann ausnahmsweise auch ihre rechte Hirnhälfte, die Vieldeutler die linke. Konsens ist dabei selten, Dialog immerhin möglich. Hinterher fühlen beide Fraktionen sich als Helden. Die Vieldeutler, weil sie beim Ertragen der linkslastigen Eindeutigkeit erfolgreich ihr Gähnen unterdrücken, die Eindeutler, weil sie mit cooler Gelassenheit das zweideutige Gewäsch aus der rechten Hirnhälfte an sich abtropfen lassen. Zur Belohnung erhalten die einen einen Seriositätsbonus, die anderen einen Kulturbonus, der dann gegen neue Fördergelder eingetauscht werden kann. Während jedoch die Unseriösen das Äquator-Ritual zum Überleben benötigen, da Wissenschaftler ohne harte Fakten von denen, die heute die Suppe verteilen, wie Gammelfleisch oder verlauste Schmarotzer behandelt werden, betreiben die Kulturlosen so etwas wie Wissenschaftspopulismus, mit dem sie frech und streberhaft immer tiefer in die Hoheitsgebiete der Gegenseite vordringen. Wozu Kultur? Zur Entspannung und Unterhaltung, gewiss, vielleicht auch noch zur Erschließung neuer Märkte. Schließlich sollte man mit Chinesen und Arabern erst einmal über Mozart und Mozartkugeln plaudern, bevor man über Lieferungen von Uhren und Kampfjets verhandelt.
Vor zweihundert Jahren wurde die Seele zum Geist. Vor hundert Jahren wanderte der Geist ins Räderwerk der Materie. Auch die Kultur ist längstens schon ein „System“ aus Regeln und Zeichen. Kein seriöser Kulturwissenschaftler würde etwas anderes behaupten. Soviel Eindeutigkeit muss sein. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts geht es nun darum, den biologischen Menschen mitsamt seiner zweideutigen Kultur, seinen fragwürdigen Emotionen und all seiner Verträumtheit durch Maschinen zu ersetzen, die klar und eindeutig denken, zielführend handeln und transhuman investieren. Zweideutigkeiten und Ambivalenzen, Anspielungen und Ironie, Ambiguität und Polyvalenz gehören in die Mottenkiste der Analogie! Die Computer-„Sprachen“ (bzw. richtiger: Befehlscodes) der Digitaltechnik verwenden eindeutige Signale: Ein – Aus, Eins – Null, Wahr – Falsch, Entweder – Oder.
Naturwissenschaftliche und mathematische Grundlagenforschung führe – so preisen die Eindeutler, sobald sie die Suppenküche betreten, die Vorzüge ihrer Welt – zu unverzichtbaren technischen Verbesserungen, beispielweise bei der Beschichtung von Bratpfannen oder beim Bau von Wasserstoffbomben. Dem können wir Vieldeutler natürlich nichts Entsprechendes entgegen setzen. Da werden wir ganz kleinlaut. „Wozu ist unser Gelaber überhaupt gut?“, fragen wir uns und senken schamvoll die Stimme. „Wem nützt die schönste Vieldeutigkeit?“ Verzagt labern wir herum, erfinden neue Ideensysteme und neue „Turns“, kaufen neue Computer und wissen doch keine Antwort auf die Fragen unserer Studenten. Ja, mit Vieldeutigkeit lässt sich keine Bombe zünden und kein Würstchen braten. Eine fatale Erkenntnis, die in den letzten Jahren zu drastischen Einsparungen bei den sogenannten Geistes- und Kulturwissenschaften geführt hat. Die Suppe, die man uns rüber reicht, wird immer dünner.
Nun stehen wir da mit unserer Mehrdeutigkeit, den hermeneutischen Leer- und Unbestimmtheitsstellen, kunstvollen Rätselstrukturen, polysemantischen Dampfnudeln und all dem schöngeistigen Quark. Die staatliche Ludothek will das Gerümpel ausmisten, bekanntlich spielen die Kids heute lieber am Computer. – Was tun? Konvertieren und in die andere Hemisphäre auswandern? Oder schauen, ob sich der Mehrwert unserer Mehrdeutigkeit nicht doch etwas eindeutiger und populärer vermitteln bzw. reißerischer vermarkten ließe? Doch wie?
Zum Beispiel mit einer neuen Verschwörungstheorie! Die sind doch gerade sehr in Mode und werden auch immer effizienter. Es braucht heute kaum noch Phantasie, um Verschwörungen zu erfinden. Es reicht schon, den täglichen Nachrichten-Mix, die aus allen Rohren ballernden Info-Kanäle kurzzuschließen, eins und eins zusammen zu zählen, oder wenigstens so zu tun als ob, und schwupp! ist die neue Weltverschwörung fertig! Bastelanleitungen unnötig, das kann jeder, der seine Pubertät vor dem Bildschirm verbracht hat.
Ich aber auch. Wäre ja gelacht! Und deswegen möchte ich hier jetzt mal eine ganz neue, wirklich absolut unerhörte, sensationell skandalöse Verschwörungstheorie aufstellen. Und die geht so: Fette Schlagzeile: „Die Eindeutigkeitsfalle“. Untertitel: „Autistische Ingenieure richten die Menschheit zugrunde“. Klingt spannend, oder? Wie ich darauf komme? Ganz einfach, es genügt, ein verbreitetes Gerücht mit den Ergebnissen einer soziologischen Studie kurzzuschließen, und fertig ist der Weltuntergang! Das in meinem Fall ausgewählte Gerücht besagt, dass der Anteil an Asperger-Patienten unter Informatikern besonders hoch ist. So berichtet der Hirnforscher Felix Hasler, unter Neurologen kursiere längst die Legende, „der Erfolg von Silicon Valley stehe in direktem Zusammenhang mit der hohen Prävalenz von Asperger unter den Mitarbeitern.“ Die von mir dazu geholte Studie von Diego Gambetta und Steffen Hertog trägt den knalligen Titel: „Engineers of Jihad“ und behauptet, dass fast die Hälfte der muslimischen Terroristen der letzten 15 Jahre, die eine höhere Ausbildung vorzuweisen haben, Ingenieure oder Informatiker sind. Erstaunlich! Wo man doch spontan eher an Kunstgeschichte und Germanistik denken würde… Dasselbe gelte aber auch für Terroristen aus der rechtsextremen Szene. Die Verfasser der Studie nennen vier entscheidende Charaktermerkmale, die zu terroristischen Gewalttaten verleiten: 1. der Ekel vor allem „Unreinen“ (Ausländer, Ungläubige, Frauen, Homosexuelle usw.), 2. der Wille zur Ordnung, 3. das Bedürfnis nach fixen Identitäten und last, but not least: die Ablehnung von Vieldeutigkeit. Da haben wir es! Der autoritäre Charakter duldet kein semantisches Wischiwaschi, kein zweideutiges Gelaber.
Während die computerisierten Sunnyboys aus Kalifornien mit Siegerlächeln optimal gegarte Würstchen und Wasserstoffbomben an die notleidende Bevölkerung verteilen, Ingenieure, Neuroinformatiker und Roboterspezialisten an posthumanen (Lebe?)Wesen herumbasteln, die in etwa so autistisch, phantasielos und unsentimental sein sollen wie sie selbst, sorgen Gotteskrieger und Herrenvolk-Recken schon mal für Ordnung unter uns Kuddelmuddel-Laber-Biomenschen. Natürliche Selektion: Ordnung muss ins Köpfchen, sonst geht es uns ans Kröpfchen. Entweder – Oder. Wer über solche Dinge lacht, ist übrigens erwiesenermaßen kein Terrorist. Auch kein Autist. Denn diese sind – auch das ist wissenschaftlich eindeutig belegt – ironieunfähig.
Als Korrektiv zur Technokratisierung des Wissens und der Wissenschaft fordert der Informatikphilosoph (ja, auch solche Äquator-Berufe gibt es inzwischen!) David Gelernter in seinem neuesten Buch The Tides of Mind sogar ein komprimiertes ,studium generale‘ der Humanwissenschaften für alle angehenden Naturwissenschaftler. Bevor diese auch nur „ein Buch über Neurophysiologie oder Informatik aufschlagen dürften“, sollten sie sich erst einmal mit Philosophie, Psychologie, Literatur, Kunst und Musik beschäftigen, um ihrer spezifischen ,déformation professionnelle‘, konkret: der „Verkümmerung der emotionalen Existenz und des kommunikativen Ausdrucks“, vorzubeugen. Prima Idee! Doch wozu eigentlich? Uns Vieldeutlern würde das natürlich ein paar zusätzliche Stellen verschaffen, die Studis aber hätten mehr Arbeit und noch mehr Gelaber. Mit Zynismus kommen wir hier nicht weiter. Sondern höchstens mit Kafka.
Wieviele Deutungen braucht es eigentlich, um dem binären Terrorismus zu entkommen? Ich würde sagen: mindesten vier. Schon die mittelalterliche Bibelexegese kannte den vierfachen Schriftsinn, es gibt vier Kardinaltugenden, vier Temperamente. Arthur Schopenhauer postulierte eine vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, und der amerikanische Philosoph Nuel Belnap entwickelte eine vierwertige Logik, mit der sogar Computer lernen, dass Dinge außerhalb von Null und Eins „möglich“ sind. Menschen hingegen lernen an literarischen Texten, dass vieles möglich und alles Mögliche vieldeutig ist. Zum Beispiel an Texten der sogenannten Fantastik, Erzählungen von E.T.A. Hoffmann, Guy de Maupassant oder Henry James. Gibt es den Sandmann oder nicht? fragen wir uns beim Lesen. Existiert der Horla da draußen? Und was ist mit den Geistern? Alles nur Einbildung eines verrückten Erzählers? Oder müssen wir LeserInnen an einer Schraube unseres Denkens drehen, brauchen einen Turn of the Screw, um es auszuhalten, hier gar keine Entscheidungen zu treffen? Ironie ist eine Form von Erkenntnis. Das wusste Friedrich Schlegel, und Autoren wie Hoffmann, Maupassant, James und Kafka haben Literatur daraus gemacht. Die Jungs aus Kalifornien sprechen natürlich lieber von „Unschärferelationen“ und „Fuzzy-Logik“. Sollen sie! Computer-Fuzzis stehen nun mal auf Logik, Literatur-Tussis auf Lyrik. Getrennte Hemisphären, wie gesagt.
Doch nehmen wir einen beliebigen Text von Franz Kafka, beispielsweise seine berühmte Erzählung Das Urteil vom September 1912. Ein Text voller Rätsel und Widersprüche. Hat Georg Bendemann, der junge Kaufmann und Held der Geschichte, tatsächlich einen Freund in Petersburg oder gibt es diesen, wie der Vater zunächst behauptet, gar nicht? Und warum, um alles in der Welt, stürzt Georg sich am Ende in den Fluss? Nur, um das Urteil des Vaters zu vollstrecken? Haben wir es also mit einer ödipalen Strafphantasie zu tun? Oder opfert sich der junge Mann, den die „Bedienerin“ mit „Jesus!“ anredet – Stichwort „imitatio Christi“ – etwa für die Kunst? Ist der Sprung von der Brücke vielleicht als Befreiungsschlag zu werten? Oder im Gegenteil als Eingeständnis seiner Lebensunfähigkeit? Vier Lesarten, vier Möglichkeiten. Und alle sind wahr. Jede auf ihre Weise. Vielleicht kicherte Kafka beim Schreiben genauso herum wie Nietzsche. Weil er dabei schon an das kommende Gelaber dachte, an all die Fuzzis und Tussis, die in Zukunft seine Zwei- und Vierdeutigkeiten aushalten würden, um nicht zu Autisten und Terroristen zu werden.
Mehrdeutiges und Ambivalentes muss nicht konfus sein, oft ist es sogar höchst planvoll gebaut und strukturiert, was handkehrum aber nicht bedeutet, dass alles Vieldeutige und Fantastische nur dann akzeptabel ist, wenn es sich auf einer ,höheren‘ Ebene doch wieder hübsch ordentlich zusammenfügt. Nein, so einfach dürfen wir es den Ordnungsfanatikern dann auch wieder nicht machen. Das Chaos will schon für voll genommen werden! Widersprüche sind Widersprüche. Rätsel Rätsel. Doch wer lernt, so etwas auszuhalten, wer sich daran gewöhnt, dass die Dinge vielschichtig und unordentlich sind, fühlt sich von Unordnung und Mehrdeutigkeit nicht sofort bedroht. Wer lernt, mit Kafka zu kichern, hat für heilige Kriege bestenfalls ein gelangweiltes Lächeln.
Lest Kafka! sage ich den Autisten und Eindeutigkeitsfanatikern, oder Jorge Luis Borges, oder Salman Rushdie oder Ash Erdoğan! Lernt den möglichen Dritten kennen, das Neben- und Ineinander der Wahrheiten, das Verschlungene und Labyrinthische, gewöhnt Euch an die Dämmerung, statt auf norwegischen Inseln, in ostdeutschen Sportstadien, pakistanischen Schulen, französischen und amerikanischen Nachtclubs, afrikanischen Hotels, vor arabischen Moscheen und indischen Tempeln, auf belgischen Flughäfen, türkischen und israelischen Märkten anders denkende Mitmenschen in den Tod zu bomben.
Und den PolitikerInnen sage ich: Wer Musikschulen schließt, Theatern, Kulturstiftungen und Philosophischen Fakultäten die Mittel kürzt, populistische Initiativen gegen Forschungszentren lanciert, der darf sich nicht wundern, wenn immer mehr Menschen nur noch „Eindeutiges“ verkraften. Es wird Zeit für eine Gegenverschwörung.