Vor ein paar Tagen traf ich meinen lieben Kollegen H.H. am Fotokopierer. Na, wie geht’s und so, und Dir selbst, danke und so weiter. Abschließend dann die Frage, wann nun endlich mein neues Buch erscheine und wieviel es da denn zu lesen gäbe, das Semester sei ja leiderleider wieder einmal sowas von komplett ausgebucht [es gehört zum guten akademischen Ton, gestresst zu sein und seine Mitmenschen möglichst hautnah an der entsprechenden Hormonausschüttung teilhaben zu lassen]. Waaaas? 528 Seiten? Hast du denn soviel erlebt?
H.H. ist einer der besten, der klügsten Köpfe bei uns, ein ausgefuchster, eingewiefter, rundum beschlagener Textwissenschaftler. Die hermeneutischen Grundregeln, z.B. Gadamers gegen Dilthey gerichtete Einsicht, der Text sei gerade nicht als „Lebensausdruck der Subjektivität des Verfassers“ zu verstehen, beherrscht er aus dem Effeff. Wahrscheinlich könnte man ihn mitten in der Nacht aus dem Schlaf reißen, aus dem Bett zerren und zwingen, z.B. Goethes Gedicht „Die Spinnerin“ zu interpretieren – aus dem Stand und ohne Brille. Er würde das lyrische Ich mit trennschärfstem Blick fokussieren und nicht eine Sekunde mit demjenigen des Autors verwechseln. Was die Spinnerin im „Kämmerlein still und fein gesponnen“, wäre stets nur ein banaler Faden und nicht etwa ein Gedicht des großen Meisters himself. Oder war's umgekehrt? Ich hoffe, ich drücke mich halbwegs verständlich aus.
In meinem Fall aber scheint H.H. diese Grundregeln ganz grundsätzlich zu vergessen. Da wird das neue Buch – sofern es sich nicht um einen historischen Roman oder ein Kochbuch handelt – zum persönlichen Bekenntnis. Offenbar kann man sich bei jemanden, den man kennt oder zu kennen glaubt, einfach nicht vorstellen, diese(r) besäße so etwas wie Fantasie. Als realpräsenter Mensch müsse er/sie gefälligst für die eigenen Texte geradestehen, persönlich haften und einsitzen. Und zwar im Gefängnis des eigenen Lebens. Und wehe, er/sie versucht, sich durch die eng geschraubten Gitterstäbe hindurch in die Flucht zu schreiben. Es wird ihm/ihr nichts nützen, man wird ihm alles Flüchtige als Leben andichten, ihm wieder und wieder jeden Einfall als klumpigen Klotz ans Bein binden – schreibe, was wolle. Als Leser sind Nachbarn und Kollegen einfach unerbittlich.
Gewiss, wenn uns im Proseminar eingetrichtert wird, der Erzähler sei nie&nimmer der Autor, selbst wenn beide denselben Namen und dieselbe Frisur tragen, ist das natürlich genauso eine Lüge wie das Gegenteil. Der AutorIn ist immer im Text. Irgendwo. Ob ersie nun meint, wie Rimbaud ein anderer zu sein, oder wie im japanischen Shishōsetsu versucht, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen.
Doch wo genau im Text versteckt er/sie/es sich? Und zu wieviel Prozent? Und welche Facette seiner multiplen Persönlichkeit ist wann und woran genau beteiligt?
Also, ich will mich hier nicht herausreden. Ich gestehe: Ja, meine Texte haben mit mir zu tun. Zum Beispiel habe ich sie geschrieben, ganz alleine, ichichich! jawohl. Das muss ich zugeben. Aber wahrscheinlich haben sie noch viel mehr mit mir zu tun. Um nur ein sehr konkretes Beispiel herauszugreifen: Kommt in einer Geschichte beispielsweise eine weibliche Person vor, die einen fremden Mann küsst, so kann das natürlich bedeuten, dass ich gerne fremde Männer küsse. Genauso gut aber kann es bedeuten, dass ich noch nie einen fremden Mann geküsst habe, so etwas aber gerne mal tun würde. Oder im Gegenteil: dass ich mich davor fürchte oder ekele, fremde Männer zu küssen, und diese Angst nun literarisch verarbeite. Es könnte auch bedeuten, dass es mir irgendwann einmal passiert ist, einen Mann zu küssen und ich mir komischerweise dabei vorgestellt habe, er sei fremd. Oder umgekehrt: ich habe einen fremden Mann auf der Straße gesehen und mir vorgestellt, ich würde ihn küssen. Wenn ich also zugebe, dass meine Texte tatsächlich etwas mit mir zu tun haben, dann nur, damit mein Kollege am Fotokopierer nicht glaubt, ich hätte irgendwo abgeschrieben und mir ein falsches Leben angemaßt. Neinnein, alles von mir selbst erlebt, erstunken & erlogen, versprochen hoch & heilig.