Es soll Philosophen geben, die statistische Befragungen anstellen, um herauszufinden, was gut und was böse ist. In sogenannten Lehnstuhl- (nicht Lehrstuhl!-)Experimenten müssen die Probanden dann – ähnlich wie früher die Wehrdienstverweigerer – knifflige Gewissenfragen beantworten, zum Beispiel, wen sie in einer Notsituation lieber überfahren würden: eine Katze oder einen Hund, eine Frau oder ein Kind? Der praktische Nutzen solcher Experimente sei, dass sich mit den Ergebnissen schon bald die neuen selbstfahrenden Google-Autos programmieren ließen, mit denen dann diese Leute oder Hunde überfahren werden.
Es soll Philosophen geben, die statistische Befragungen anstellen, um herauszufinden, was gut und was böse ist. In sogenannten Lehnstuhl- (nicht Lehrstuhl!-)Experimenten müssen die Probanden dann – ähnlich wie früher die Wehrdienstverweigerer – knifflige Gewissenfragen beantworten, zum Beispiel, wen sie in einer Notsituation lieber überfahren würden: eine Katze oder einen Hund, eine Frau oder ein Kind? Der praktische Nutzen solcher Experimente sei, dass sich mit den Ergebnissen schon bald die neuen selbstfahrenden Google-Autos programmieren ließen, mit denen dann diese Leute oder Hunde überfahren werden.
Eigentlich ist das Gedankenexperiment in der Philosophie ja gar nichts Neues, man nimmt statt Lehm oder Sand oder Bauklötzchen den eigenen Kopf und experimentiert damit. Das Gedankenexperiment ist – wenn man an Platons Höhlengleichnis denkt oder an die Begegnung mit der Schlange im Paradies – gewissermaßen die Urmutter aller philosophischen Methoden, nur eben heute mit dem neumodischen Unterschied, dass die Philosophen jetzt offenbar nicht mehr mit ihren eigenen Gedanken herumexperimentieren, sondern mit denen der anderen. Fremdphantasieren könnte man das nennen, ganz empirisch. Nachdem Newton den leeren Raum in den Eimer und Schrödinger die Katze in seine Todes-Kiste gesteckt hatten, nahm Putnam das Hirn eines beliebigen Lesers und legte es in einen Tank mit Fiktionen. Dort liegt es noch heute und wird von emsigen Philosophen mit hochgerüsteten Computern befragt, wie es sich die Welt denn so vorstelle. Das arme Hirn beantwortet dann kleinlaut alle Fragen, sagt brav, wen es denn gerne überfahren würde, und dass es eigentlich lieber mal mit dem selbstfahrenden Auto durch die Gegend brausen würde als immer nur im Tank herumzuliegen und sich von Fremdphantasien berieseln zu lassen.
Doch warum und wozu überhaupt, so frage ich mich, plagen die Philosophen die armen Gehirne und quälen sie mit unentscheidbaren moralischen Fragen? Frühmorgens um 7:09, kurz nach den Kurznachrichten, oder mittags oder abends nach den Spätnachrichten. Da kriegt man als gewöhnliches mitteleuropäisches Hirn doch nur ein schlechtes Gewissen und nächtelange Angstzustände, wacht schweißgebadet auf, weil schon wieder der Hund auf der Straße steht und man nicht weiß, ob man ihn jetzt überfahren soll oder nicht, denn im nächsten Moment könnte ja schon wieder das Kind auf die Fahrbahn springen und den Tod des Hundes zu einer moralischen Verpflichtung machen, oder den der Katze oder den der Frau. Sie dauern einen, diese vollgetankten Hirne! Man möchte sich ihrer erbarmen und rufen: Überlasst solche Sachen den Profis! Denen, die so viel Phantasie haben, sich vorzustellen, auf die Bremse zu treten, das unmoralische Auto erst gar nicht zu kaufen oder den unausgefüllten Fragebogen der Philosophen lieber als Lesezeichen zu verwenden. Ich meine hier die Dichterinnen & Dichter, also die, die sich bei ihren Gedankenexperimenten nicht an kleinliche Regeln halten, denen es im Grunde egal ist, ob die Welt aus Atomen besteht, im Eimer oder in der Kiste ist oder überhaupt erst im Tank von einer hypnotischen Nährstofflösung erzeugt wird. Denn die Welt ist sowieso nie nur das, was der Fall ist. Sie ist immer anders, mal mehr, mal weniger, dann wieder so, vielleicht möglich, oft auch nicht. Wenn man nicht schizophren ist, ist das natürlich kaum auszuhalten. Man stelle sich – kleines Gedankenexperiment – mal vor, die Dichter würden ihre Phantasien ernst nehmen, also so wie das Gehirn im Tank den Fragebogen des Philosophen. Dann müssten sie sich tatsächlich zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, zwischen Fiction und Faction entscheiden. Horror! Denn es ist ja gerade die kreative Schizophrenie, die Ambivalenz der Phantasie, die es erlaubt, die Eimer, Kisten und Tanks der Philosophen zu verlassen und – gedankenspielend, meinetwegen: experimentierend – im eigenen Kopf herumzuspazieren und dabei andere Zustände und andere Fälle zu erproben. Natürlich schweben diese Labor-Dichter wie Schrödingers Katze beständig zwischen Leben und Tod, zwischen gut und böse, zwischen wahr und falsch. Die Literaturwissenschaft spricht dabei vornehm von „Mehrdeutigkeit“, man könnte dieses Gemauschel mit der Realität aber auch „Katzenzustände“ nennen.
Wie aber funktioniert nun so ein literarisches Gedankenexperiment? Geht es dabei – wie bei den Philosophen – um die Lösung von Problemen, die man tagtäglich mit dem Denken und der Wirklichkeit hat? Ich denke schon. Natürlich gibt es auch Dichter, die einfach mal aufschreiben, was ihnen der Tag oder die Woche oder das Leben so gebracht hat, vielleicht auch solche, die sich mit der Sprache in einer geheimen Brüderschaft wähnen und auf Losungen, Eingaben und Befehle von oben, unten, hinten oder vorne warten. Klar, die gibt’s natürlich auch, und die soll und darf es auch geben. Ich gehöre nicht dazu. Meine Katzen wollen aus der Kiste, wollen wissen, was los wäre, wenn sie plötzlich selbst auf der Straße stünden und von experimentierfreudigen Philosophen überfahren würden. Spießumdrehen nennt man das, nur dass der Dichter die Klinge am liebsten auf und gegen sich selbst richtet. Kitschig, aber nicht zu ändern.
Also, mein heutiges Gedankenexperiment geht so, bzw. könnte so gehen, denn aus den wirklich guten mache ich lieber eine Geschichte. Ich muss allerdings noch eines voraus schicken: Der Geist, mit dem ich experimentiere, ist ein Widerspruchsgeist. Zu allem & jedem muss er erst einmal sein „Ja-Aber“ skandieren. Wenn er dann losgelassen ist, womöglich gar aus der Kiste rauskommt und merkt, was für ein scharfer Wind da draußen weht, dann zieht er oftmals auch den Schwanz wieder ein und trottet zurück in den Tank. Das muss ich vorab leider ebenfalls öffentlich gestehen.
Heute Morgen war er also wieder mal draußen, las Radio, hörte Zeitung, kam von einer Frage zur anderen und dabei ganz durcheinander, weil ihn – wie momentan wohl die meisten Zeitgenossinnen und -genossen – gewisse tagespolitische Fragen einfach nicht mehr loslassen, wobei die Tagespolitik zur Zeit eigentlich auch ein ideales Experimentierfeld für Philosophen wäre. Doch Volkes Stimme, oder was auch immer an seiner Stelle spricht oder blökt, muss gar nicht mit ausgeklügelten Fragebögen ermittelt werden. Was gut und was böse ist, wer überfahren werden soll und wer nicht, steht täglich in den sogenannten sozialen Medien, das sprengt jeden Fragebogen und macht aus Newtons Welt-Eimer einen gigantischen Kotzkübel.
So gegen 7:09, vermutlich angeregt durch die neuesten Nachrichten über den Krieg in Syrien und den im Irak und den in Afghanistan und den in Frankreich, fragte mein Widerspruchsgeist also ganz plötzlich, ob man all diese wild gewordenen, reaktionären, autoritätsgläubigen, aberwitzig ungebildeten jungen Männer mit ihren lächerlichen Vorstellungen von Männlichkeit, Stolz und Identität, Gehorsam und Glauben, westlicher Dekadenz, heiligem Krieg und all diesen Micky-Maus-Ideen, Knaben, die erst den wahhabitischen Bärten und dann dem Krieg hinterher laufen, vielleicht als missratene „Kinder“ sehen könnte? Sind sie nicht auch einfach nur dumme, verlorene Kinder, die ihr Hirn mit allem möglichen Mist beladen, bevor sie es zum Waschen & Schleudern in den Tank schmeißen?
Ich weiß, ich begebe mich mit dieser Frage – gottlob zu rein experimentellen Zwecken – auf rechtskonservatives Glatteis. Denn von dort aus wird ja gerne suggeriert, der IS-Terror sei eine (verdiente!) Reaktion auf die „Übertreibungen“ von 68, und das auch noch in doppelter Hinsicht: zum einen, weil man einfach viel zu lange viel zu tolerant gewesen sei und all diese Ausländer ins Land gelassen habe (an dieser Stelle bitte ich Herrn Newton um seinen Kotzkübel, denn irgendwo muss diese kleinkarierte, angstverschwitzte, sich zunehmend radikalisierende Flüchtlingsphobie ja hin…), und zum anderen, vor allem wenn diese Rechtspopulisten dem Argument begegnen müssen, dass die terroristischen „Schläfer“ hier in Europa schlafen, weil sie ganz einfach hier geboren sind, einige von ihnen sogar völlig ohne den sogenannten Migrationshintergrund, dann bekommt man zweitens Folgendes zu hören: Die Jugend habe ganz einfach die Schnauze voll von der Toleranz ihrer Eltern, dem Wischiwaschi der 68er-Generation, die alles verstehen, alles erlauben, keine Grenzen setzen, keine festen Werte mehr vermitteln, sondern nur lauter Meta-Zeugs wie Freiheit (auch noch die des Andersdenkenden!), Toleranz usw., die eigenständiges, kritisches Denken predigen, statt selbst zu sagen, wo’s lang geht, was dann natürlich, kein Wunder!, irgendwann zum Verfall der Werte, Verlust der Mitte, Demontage von Autoritäten usw. blabla führe. Junge Menschen bräuchten Führung, klare Verhältnisse, Hierarchien, Vorbilder, an denen sie sich orientieren können. So Leute wie Putin zum Beispiel, das wäre vielleicht die passende Alternative zu den Langbärten, oder die Typen und Typinnen vom FN oder von der AfD.
Der gemeine 68er und seine Sympathisanten (also ich zum Beispiel) entgegnen dann gewöhnlich: Das ist doch Quatsch, unsere eigenen Kinder sind wohlgeraten, auch moralisch, sie orientieren sich halt nur nicht an der vertikalen, sondern an der horizontalen Werte-Achse, sie interessieren sich nicht für oben und unten, sondern für links und rechts und für die Frage, an welchem Punkt alle gleich sind. Schuld sei vielmehr, so argumentieren wir weiter, der korrupte Zustand unserer Mainstream-Gesellschaft, der Stress, die Unfähigkeit und das Desinteresse vieler Eltern, die ihre Kids lieber den Medien ausliefern als mit ihnen zu sprechen, die ihre 4jährigen vor die Playstation setzen und dort herumballern lassen, während sie selbst am I-Phone oder am Computer herumdaddeln. Außer Konsum hätten viele junge Menschen doch gar keine Perspektiven.
An dieser Stelle der Diskussion kommt es meistens erst einmal zu einer gewissen Beruhigung. Denn der Rechtskonservative – sofern er nicht selbst aus bildungsfernen Sümpfen kommt (und die ziehen ihre Kreise heutzutage bis weit in die hedonistische Mittelschicht hinein, die zwar Computer programmieren kann, aber oft keine Ahnung von Pädagogik und Politik hat) – stimmt dieser Zustandsbeschreibung in der Regel zu. Bei der Diagnose ist man sich noch einig, bei Anamnese und Therapie divergieren die Ansichten aber beträchtlich. Da geht es dann wieder um die Schuld der 68er, da hält es der Konservative wiederum für ein Versäumnis disziplinloser Gammler & Hippies, dass heute alle an der Bushaltestelle herumdaddeln statt brav geradeaus zu schauen oder ein gutes Buch zu lesen, während wir Linken (zur eigenen Entlastung…) die Schuld auf „Amerika“ schieben, mit Adorno und seinen EnkelInnen behaupten, das Ganze sei eine manipulative Verschwörung des Kapitalismus, der mit seinen weltumspannenden Medienfirmen immer tiefer nach unseren Gehirnen greife, uns alle in den Tank stecke, um jeden Gedanken, jede Körpersensation, jedes Gefühl zu Geld machen. Für den islamistischen Ballermann ist der Krieg in Syrien dann bloß noch eine Art Fortsetzung der gewohnten Computerspiele: Web 5.0 oder 6.0 mit garantiertem Live-Effekt! Doch richtiger wäre vielleicht: Web 0.0., da wo die Schwarmintelligenz direkt aus den Testosteron und Serotonin gedopten Hirnrinden spritzt.
So in etwa laufen die argumentativen Frontlinien, fast immer und in jeder Diskussion, in jedem Medien, auch in den 2.0-Foren: vorhersehbar, abgezirkelt wie die Bretterkiste um den Gehirntank. Ähnliches gilt für die Diskussion um die politische Verantwortung für den IS: Während Rechtspopulisten essentialistisch argumentieren und die Schuld am liebstem „dem“ Islam in die vor der Moschee abgestellten Schuhe schieben, denken wir Linken historisch, erinnern an die Folgen des Kolonialismus, an die Aktivitäten des CIA, an die Situation in Palästina, an den Putsch in Teheran 1953 und dessen Folgen für den gesamten Nahen Osten. Manche von uns wissen sogar um die historischen und ideengeschichtlichen Verbindungen zwischen den salafistisch-wahhabistischen Bewegungen und dem europäischen Faschismus der 1920er Jahre. Bis vor Kurzem wussten davon allerdings nur wenige, da überließ der kulturelle Relativismus einem Typen wie Sarkozy den öffentlichen Schlagabtausch mit den europäischen Nachkommen der Muslimbrüderschaft oder die Auseinandersetzung über das Verschleierungsverbot. Womöglich war es für Frauen in dieser Situation einfacher, Prioritäten zu setzen, zu differenzieren und zwischen dem – universellen – Recht auf freie Meinungsäußerung und Religionsfreiheit auf der einen Seite und dem – ebenso universellen – Recht der Frau auf freie Selbstbestimmung auf der anderen Seite zu wählen bzw. abzuwägen. Zum Glück hat die Linke seit den 90er Jahren hinzugelernt, ist heute – auch seit der Ermordung der Charlie-Hebdo-Journalisten – „wehrhafter“ und damit grundsätzlicher, d.h. weniger relativistisch und masochistisch. Und das ist dann der Moment, in dem liberale Linke und bürgerliche Rechte so etwas wie einen demokratischen Schulterschluss demonstrieren und gemeinsam durch die Straßen marschieren. – Ich merke gerade, dass man über solche Dinge offenbar nicht schreiben kann, ohne diesem auch schon wieder verdächtigen republikanischen Pathos anheim zu fallen.
Doch kommen wir zu dem Gedankenspiel, zu dem mich der Widerspruchsgeist treibt. Welche Katzensprünge machte mein Experimentalhirn heute um 7:09, kurz nach den Kurznachrichten? Zuerst etwas Leichtes. Zum Aufwärmen erstmal eine ganz simple Einfühlung. Und die geht in etwa so: Ich bin ein erzkonservativer Familienvater in einem mitteleuropäischen Land im Jahr 1969. Ich hasse Unordnung, ungezogene Kinder und emanzipierte Frauen. Ich bin eine Karikatur, die vollschlanke Katze in einem volltrunkenen Gedankenexperiment. Frauen sollen wie Frauen aussehen, Männer wie Männer. Und das Denken überlassen wir der Obrigkeit. Ich liebe meinen neuen Rasenmäher, die Grillabende mit den Kumpels und die Schießübungen im Schützenverein. In der Erziehung rutscht mir manchmal die Hand aus, meine Frau wäscht und bügelt meine Hemden. Sie bekommt dafür Taschengeld und ist zufrieden. Ich bin sparsam. Ich bin korrekt. Ich bin ein Arschloch. – Nun setzt mir die Urheberin dieser Gedanken einen Sohn in die Kiste, der nicht mehr zum Frisör geht, affige Musik hört und behauptet, Ordnung sei dasselbe wie Faschismus. Die Urheberin der Gedanken sagt, es sei trotzdem mein Sohn und ich solle jetzt mal sehen, wie wir zusammen klar kommen. –
Klettern wir in Gedanken noch einen Schritt weiter in die Vaterkiste. Wie fühlt es sich da genau an? Wohl ein bisschen wie bei Schrödingers Katze: isoliert, weder tot noch lebendig. Und es kommt, anders als bei Schrödinger, einfach keiner rein, um meinen Zustand zu untersuchen und zu messen. Da wird man doch zum Zombie! Es fühlt sich beschissen an, ich könnte brüllen vor Wut. Was ich auch tue, ich brülle und brülle. Doch mein Kisten-Sohn kifft einfach weiter, es ist ihm egal, was ich denke, im Gegenteil, oft habe ich den Verdacht, dass er das alles nur wegen mir macht. Er will mich provozieren, mich aus der Kiste locken. Bald explodiert etwas, ich weiß nur noch nicht was.
An dieser Stelle hat sich die Leiterin des Experiments etwas Besonderes ausgedacht. Sie kippt das Ganze jetzt einfach mal um, stellt die Vater/Sohn-Beziehungskiste auf den Kopf. Die beiden reden jetzt mit vertauschten Rollen. Nun ist der Sohn das faschistische Arschloch, der seiner/n zukünftigen Frau(en) und Töchtern ein eigenständiges Leben verbietet, dabei wahlweise selbsternannte Propheten und Kalifen oder reaktionäre Schwätzer zitiert, während seine Eltern ratlos daneben stehen und den eigenen Sohn für einen Wiedergänger des Urgoßvaters halten.
Hier muss ich (also ich) – wegen der rechtskonservativen Glatteisgefahr – die Fahrt in der Gedankenkiste mal kurz unterbrechen, um eine kleine Meldung zur Großwetterlage durchzugeben: Es geht, Sie haben es wahrscheinlich bemerkt, bei diesem Experiment um das Private in der Geschichte, um das, was nicht in den Geschichtsbüchern steht, weil es dort gar nicht stehen kann. Es geht um das, was gefühlsmäßig drin liegt oder liegen könnte. In den Kisten und in den Köpfen. Denn die Frage ist ja: kann ich – via Gedankenexperiment – überhaupt in so ein gekipptes Vater/Sohn-Arschloch hineinkriechen, ohne mich selbst zu beschmutzen, weil ich durch diese Innensicht vielleicht sein autoritäres, womöglich noch vom Nationalsozialismus oder von Hasspredigern aus dem Internet geprägtes Weltbild rechtfertige?
Ich glaube, die Literatur kann und darf das. Sie kennt Kriegsverbrecher, Serienkiller, Attentäter, Folterknechte und Tyrannen von innen, ohne deren Verbrechen zu verharmlosen oder zu behaupten, das seien schließlich auch nur Menschen. Banale obendrein. Warum also sollte ich mich nicht, morgens um 7:09 in die Rasenmähermentalität eines strengen Familienvaters der 1960er Jahre einfühlen, um sie sodann – Hund oder Katze? – in die Hybris eines narzisstischen jungen Losers kippen zu lassen? Wäre ja gelacht!
Nun kippe ich die Versuchsanordnung aber ein zweites Mal. Dabei macht die Gedankenkatze einen Tigersprung in die Realität – die heutige meine ich. Da sitzt mein bärtiger Sohn nun tatsächlich auf der Kiste, sagt, er könne das demokratische Gelaber nicht mehr ertragen, den Verfall der Werte, immer ginge es nur um Sex oder Geld, keiner wisse mehr, was richtig oder falsch sei, jeder suche nur das persönliche Vergnügen. Er habe die Schnauze voll von den Amis, von all den Demokraten hier in Westeuropa, die so tun, als hätten sie die Weisheit mit Löffeln gefressen, während sie ihre Soldaten in die Wüste schicken, um dem Orient auch noch das Letzte zu nehmen, was der noch habe: seinen Stolz und seine Religion.
Ich habe versucht, mich in alle hinein zu denken, die Kiste nach allen Seiten hin und her zu kippen. Wie fühlt es sich an als Mutter oder Vater eines Sohns, dessen Katzenzustände Ohnmacht und Hass sind, der sich übergangen fühlt, Angst hat, nie wirklich zu genügen, niemals dazu zu gehören? Und wenn dann Leute kommen und ihm eine Knarre in die Hand drücken und ihm einreden, er sei gar kein armes, kleines Kätzchen, das nicht einmal richtig lesen und schreiben gelernt habe, sondern ein wilder, böser Tiger, der einfach nur tun müsse, was man ihm sagt, dann, ja dann, explodiert wohl auch diese Kiste. Ich, der Vater, ich die Mutter, weiß nicht, was ich tun soll. Es ist mein Sohn, ich habe Angst vor seinem Hass und Angst vor seinem Unwissen, ich habe Angst um ihn und um uns. Und ich bin wütend auf seine Wut. Ich kann ihn nicht in die Arme schließen, weil er das als unmännlich empfände. Das hat übrigens auch Pierre Bourdieu nicht getan, als er vor 25 Jahren mit Ali und François über die „Misère du monde“, speziell über die in den nördlichen Banlieues, sprach. Er nannte das damals „la violence inerte de l’ordre des choses“, die träge Gewalt der Zustände, die brutale Unbeweglichkeit unserer Gesellschaftsordnung.
Hier endet mein Gedankenexperiment. Schluss, bevor ich auf meiner Geisterfahrt mit Schrödingers Kiste in Teufels Küche gelange! Gewiss, der bärtige IS-Anhänger hat nichts zu tun mit dem jungen Freak von 1969, die ratlosen Eltern von heute nichts mit den autoritären von damals. Die europäischen IS-Terroristen sind nicht der Schatten von 68, der IS-Terror keine Jugendbewegung, der Krieg in Syrien kein Generationskonflikt. Die Analogie zu 68 ist einfach falsch. Wir haben uns nichts vorzuwerfen. Und das sage ich ohne jegliche Ironie. – Doch was wäre, wenn wir versuchsweise – in gelegentlichen kleinen Gedankenexperimenten – so tun, als gäbe es eine solche Ähnlichkeit, als gäbe es eine Art Generationskonflikt, ein Aufbegehren, eine legitime Verzweiflung jenseits von Brutalität und Dummheit?
Es gibt keine wirklich schlüssigen Erklärungen, keine Entschuldigungen für Terror und Horror, für Killerspiele mit der Realität. Was es aber gibt, das sind die Fragen nach echten Perspektiven.